Chaoten und Verbrecher kapern Unmut gegen Polizeigewalt und sorgen für die schwersten Unruhen seit mehr als 40 Jahren. Die Bürgermeisterin verhängte eine nächtliche Ausgangssperre.
Washington. In der Nacht auf Dienstag vermischten sich in der Stadt Baltimore Proteste gegen polizeiliche Gewalt mit Zerstörungslust und Verbrechen. Die seit Monaten landesweit geführte Debatte über die Frage, aus welchen Gründen schwarze Männer besonders häufig bei Amtshandlungen ums Leben kommen, droht nun in der Panik vor großflächiger Gewalt in Amerikas Städten unterzugehen.
Es begann mit rund hundert Schulkindern, die im Internet einen Krawall vereinbart hatten, und endete mit 15 in Schutt und Asche gelegten Häusern, 19 verletzten Polizisten, 144 verbrannten Autos und rund 200 Festnahmen. Die Polizei von Baltimore warnte bereits im Verlauf des Montagvormittags, dass es nach Schulschluss rund um ein Einkaufszentrum im heruntergekommenen Westen der Stadt zu Krawallen kommen werde.
Horrorfilm als Vorbild
In den sozialen Netzwerken hätten sich die Jugendlichen dort zu einem „Purge“ verabredet, was soviel bedeutet wie (gewaltsame) Reinigung. Im konkreten Fall meinten die Schulkinder damit ein Szenario, wie sie es aus dem Horrorfilm „The Purge“ kennen: ein zukunftspessimistisches Szenario im Jahr 2022, in dem es an einem jährlichen Feiertag von sieben Uhr abends bis sieben Uhr morgens erlaubt ist, jedwedes Verbrechen zu begehen. Beim Einkaufszentrum warteten jedenfalls bereits mehrere Dutzendschaften von Polizei in Schutzausrüstung. Die Jugendlichen begannen, die Polizisten mit Steinen zu bewerfen, die Ordnungskräfte zogen sich rasch zurück.
Die Verbindung dieses Gewaltausbruchs mit dem Begräbnis eines jungen Mannes, der in Polizeigewahrsam an einer Wirbelsäulenverletzung gestorben ist, ist fragwürdig. Die Eltern Freddie Grays (25), der vor einigen Tagen unter bis heute ungeklärten Umständen gestorben ist, haben schon am Wochenende ihren Wunsch geäußert, dass beim Begräbnis keine Kundgebungen stattfinden sollen.
Die Lage in Baltimore unterscheidet sich wesentlich von jener in Städten wie Ferguson, North Charleston und New York, wo in den vergangenen Monaten ebenfalls schwarze Männer von Polizisten getötet worden sind. Die Bürgermeisterin und der Polizeipräsident sind schwarz, ebenso die Mehrheit der Polizeibeamten. Weiße sind in der Polizei nur leicht überrepräsentiert.
Doch der weitere Verlauf der Krawalle legt die Vermutung nahe, dass es nicht reicht, diese Gewalt bloß auf die Spaltung zwischen Schwarzen und Weißen zurückzuführen. Nach der Plünderung der Mondawmin Mall wurden im Lauf der Nacht nämlich immer mehr Geschäfte im Westen Baltimores ausgeraubt und angezündet – und zwar offenkundig nur dort: Berichte, wonach ein kirchliches Altersheim im Osten der Stadt durch Brandstiftung im Zuge der Ausschreitungen zerstört worden war, ließen sich laut Feuerwehr bisher nicht bestätigen.
West Baltimore ist einer der verwahrlosesten Bezirke der USA. Seit es als Hauptschauplatz der TV-Serie „The Wire“ vor einem Jahrzehnt berüchtigt wurde, hat sich nichts verbessert. Der Inner Harbor, Touristenattraktion der Stadt mit dem modernen Aquarium und den hübschen Segelschiffen aus der Gründerzeit der USA, wurde 1984 städtebaulich erneuert, wirkt aber heute schon ziemlich abgelebt. West Baltimore ist noch einige Stufen schlimmer, das lässt sich an den Kennzahlen ablesen. Im Jahr 2011 hatten 45 Prozent der Bewohner nicht einmal einen Pflichtschulabschluss (in ganz Baltimore waren es 18 Prozent). 38,3 Prozent der Menschen lebten unter der Armutsschwelle (25,1 Prozent), das durchschnittliche Haushaltseinkommen betrug 27.302 Dollar pro Jahr (38.721 Dollar).
Plünderer und Steinewerfer
Genau hier, in dieser fast ausschließlich schwarzen Gemeinde, wüteten die Chaoten, räumten Schnapsläden und Drogeriemärkte aus, verbrannten Sperrmüll und gestohlene Autos und bewarfen Polizei, Rettung und Feuerwehr von Häuserdächern aus mit Ziegelsteinen. Einer Feuerwehreinheit wurde während des Löschens der Schlauch zerschnitten.
Nun gilt eine nächtliche Ausgangssperre, sind 5000 Polizisten aus anderen Bundesstaaten sowie die Nationalgarde von Maryland angerückt und alle Schulen vorerst geschlossen.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.04.2015)