Norbert Lammert: "Begeisterung über Sonderrolle begrenzt"

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GERMANY PARLIAMENT ARMENIA ANNIVERSARYAPA/EPA/BRITTA PEDERSEN
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Bundestagspräsident Norbert Lammert über Deutschland als Führungsnation in der EU, seine Abneigung gegenüber TV-Talkshows und Twitter und den Bedeutungsverlust des Parlamentarismus in der Mediengesellschaft.

Bundespräsident Joachim Gauck und Sie haben zuletzt die Massaker an den Armeniern vor 100 Jahren ganz klar als Völkermord verurteilt. Die Regierungen in Berlin wie in Wien haben nicht so viel Mut aufgebracht. Woran liegt das?

Norbert Lammert: Ich habe durchaus Verständnis dafür, dass die Regierung ihre Gesprächskontakte mit der Türkei nicht durch eine besonders forsche Rhetorik belasten will. Ich habe nur die Erwartung nicht verstanden, dass sich deswegen das Parlament einer Sprachregelung anschließen müsse, die man für diplomatische Zwecke für angemessen hält.

In einer anderen heiklen Frage, der Ukraine-Krise, zeigt Deutschland Flagge als Vermittler. Ist Deutschland jetzt endgültig in die Rolle der Führungsnation der EU hineingewachsen, die gerade in außenpolitischen Fragen Verantwortung übernimmt?

Dass sich durch Lage, Größe, wirtschaftliches Gewicht und auch die sonst nirgendwo in Europa in ähnlicher Weise vorhandene Verbindung west- und osteuropäischer Erfahrungen eine besondere Rolle Deutschlands in solchen Situationen ergibt, ist eigentlich nicht wirklich erstaunlich. Die Begeisterung der Deutschen über diese Sonderrolle ist übrigens außerordentlich begrenzt. Die meisten würden sich eine eher unauffälligere, zurückhaltendere Rolle wünschen. Wir dürfen uns aber auch nicht vor der Verantwortung drücken, die innerhalb Europas auf uns zugekommen ist. Nicht mehr und nicht weniger ist die Absicht der Bundesregierung und schon gar der Kanzlerin.

Deutschland macht sich ja nicht nur beliebt mit dieser Sonderrolle. Es gibt durchaus Widerstand, etwa durch prominente „Putin-Versteher“ aus den Reihen der Sozialdemokraten. Macht dies die Vermittlertätigkeit nicht noch schwieriger?

Das ist jedenfalls der Normalzustand einer freiheitlichen Gesellschaft, dass eine unterschiedliche Wahrnehmung gleicher Sachverhalte artikuliert – und auch ausgetragen wird.

Sie weigern sich bekanntermaßen standhaft, an deutschen Talkshows teilzunehmen. Ist das nicht kontraproduktiv in einer Zeit, in der das Parlament durch die Große Koalition substanziell an Bedeutung verliert?

Ich erkläre allen Interessenten, dass ich in jedes Medienformat gehe, bei dem ich die Möglichkeit habe, zu komplizierten Zusammenhängen fünf aufeinanderfolgende Sätze ohne Unterbrechung vorzutragen.

Was halten Sie denn dann von einem Format wie Twitter als Kommunikationsmittel der Politik?

Ich nehme zur Kenntnis, dass das immer mehr, insbesondere junge Menschen, für ein ganz wichtiges Medium halten. Ich kann für mich eine ähnliche Dringlichkeit nicht erkennen.

Sie haben versucht, im Bundestag eine Fragestunde nach britischem Vorbild einzuführen. Warum hat das nicht geklappt?

Ich habe nicht die Prime Minister's Question Time als Modell vorgeschlagen, sondern eine andere Variante, in der das Parlament die Themen vorher festlegt, zu denen die Regierung befragt werden soll. Dazu fanden sich bedauerlicherweise die Mehrheitsfraktionen nicht bereit.

Haben Sie die Sorge, dass gerade in einer Großen Koalition in Deutschland radikale Strömungen wie etwa die Pegida oder auch die AfD stärker werden?

Große Koalitionen sind nach meinem Verständnis immer Ausnahmesituationen einer funktionierenden parlamentarischen Demokratie. Gelegentlich lassen die Mehrheitsverhältnisse nach Wahlen andere Koalitionen nicht zu. Dann muss man das Bestmögliche daraus machen. Aber für den Idealzustand darf man Große Koalitionen wirklich nicht halten.

Beobachten Sie eine Verflachung der Debattenkultur in Deutschland, eine Dominanz der Political Correctness, die es erschwert, Tacheles zu reden? Nur ganz wenige haben die Courage, ein offenes Wort zu sagen.

Das würde ich als Verallgemeinerung nicht gelten lassen. Auch in der Vergangenheit war die Neigung, sich zu schwierigen oder umstrittenen Themen mit Klartext in der Öffentlichkeit zu äußern, eher eine Neigung von Einzelnen als ein typisches Mehrheitsphänomen. Der Auswahlmechanismus in der Politikberichterstattung der Medien ist eine zusätzliche Erschwernis, der deutlich häufiger den Gesichtspunkten der Unterhaltung dient als der Information.

Dominiert das Showelement zu sehr?

Es gibt unübersehbare Trends. Dazu gehört der Vorrang der Schlagzeilen gegenüber den Inhalten ebenso wie die Personalisierung gegenüber Sachthemen und der offensichtliche Vorrang der Unterhaltung gegenüber der Information. Ein Beispiel: Während der Deutsche Bundestag in einer öffentlichen Debatte die Armenien-Frage diskutiert, sendet die ARD „Rote Rosen“ und das ZDF „Volle Kanne“ mit dem Schwerpunktthema „exotische Salatgerichte“.

Sie haben zeitgleich mit Angela Merkel vor bald zehn Jahren ihr Amt angetreten. Sollte es für so herausgehobene Positionen eine Begrenzung der Amtszeit geben, wie dies etwa beim US-Präsidenten der Fall ist?

Es gibt beachtliche Argumente dafür. Ich habe selbst vor Jahren in einem Reformpapier vorgeschlagen, dass bei einer bestimmten Zahl von Amtsjahren eine erneute Nominierung für das gleiche Amt nur mit qualifizierter und nicht mit einfacher Mehrheit möglich ist. Dies sollte das Prinzip der Befristung von Amtszeiten unterstreichen, aber auch die Möglichkeit bieten, dass in den Fällen – die es ja auch gibt –, die Wähler innerparteilich oder gesamtstaatlich sagen können, den hätten wir gern weiter in dieser oder jener Position. Eine Fallbeilregelung soll einer Wiederwahl nicht im Weg stehen.

Das Interview wurde während eines Österreich-Besuchs von Lammert am vergangenen Montag geführt.

Steckbrief

Norbert Lammert, geboren 1948 in Bochum als erstes von sieben Kindern eines Bäckermeisters und seit 1980 CDU-Abgeordneter im Deutschen Bundestag, agiert seit 2005 als Parlamentspräsident in Berlin – und schwor Angela Merkel als Bundeskanzlerin ein. Er gilt als fein- und hintersinniger Rhetoriker, der den gepflegten Schlagabtausch liebt – vor allem mit Gregor Gysi, dem Fraktionschef der Linkspartei.

»Klassensprecher«. Parteiintern leistet sich Lammert den Luxus einer eigenen Meinung, was ihm den Beinamen „Klassensprecher“ eingetragen hat. Nach dem überraschenden Rücktritt von Horst Köhler war er 2010 auch als Präsidentschaftskandidat im Gespräch. Als nominelle Nummer zwei in der Staatshierarchie steht er ein wenig im Schatten des Bundespräsidenten Joachim Gauck, der – wie Lammert – ein offenes Wort pflegt und damit zuweilen auch aneckt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.05.2015)

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