Israel: Äthiopische Juden auf den Barrikaden

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Der Unmut über Rassismus und Diskriminierung entlud sich bei den äthiopischstämmigen Juden in Unruhen. Manche fühlten sich bei Ausschreitungen in Tel Aviv an US-Zustände erinnert.

Jerusalem/Wien. Eigentlich nehmen ja die Regierungsbildung, Koalitionsmanöver und Finten der Parteien Israels Premier, Benjamin Netanjahu, gänzlich in Beschlag. Am Mittwoch läuft die von Präsident Reuven Rivlin zugestandene Verlängerung der Frist für eine neue Koalition in Jerusalem aus, und Außenminister Avigdor Lieberman sorgte rund 33 Stunden vor Ende der Deadline für einen Paukenschlag. Völlig unvermittelt trat er aus der Regierung zurück und zog als Patron der Siedler auch seine Partei, Israel Beitenu (Unser Heim), aus dem Verhandlungsspiel. Netanjahus Plan für eine Große Koalition führte sieben Wochen nach der Wahl zum Zerwürfnis mit dem Hardliner.

Doch Netanjahu war zugleich mit den Nachwehen der Unruhen beschäftigt, die am Sonntagabend Tel Aviv erschütterten. Der Premier war bemüht, den Zorn der äthiopischen Juden zu besänftigen. Er kündigte die Untersuchung des Zwischenfalls an, der die Proteste ausgelöst hat. Die Videoaufnahmen eines Polizisten, der den äthiopisch-stämmigen israelischen Soldaten Damas Pakada grundlos misshandelt hatte, stachelten Tausende zu stundenlangen Krawallen an, die vielfach Assoziationen zu den Ausschreitungen in den USA, in Ferguson oder Baltimore, nach Polizeiübergriffen auf Schwarze mit Todesfolge weckten. In seinen randvollen Terminplan zwängte Netanjahu am Montag prompt einen Termin mit Pakada.

„Offene Wunde“

„Wir werden nicht länger schweigen“, lautete die Parole auf den Plakaten der Demonstranten, die sich am Sonntag spontan zunächst vor einem Einkaufszentrum in Tel Aviv versammelten, wo sie eine Hauptstraße blockierten. Später zogen die Demonstranten auf den Jitzhak-Rabin-Platz vor dem Rathaus, wo die Einsatzkräfte mit Blendgranaten, Wasserwerfern und Pfefferspray sowie mit berittener Polizei gegen die Demonstranten vorgingen, um so die Menge zu zerstreuen. Die Demonstranten gingen auf die Barrikaden, sie schleuderten Flaschen und Steine. Mitten in der Metropole Tel Aviv spielten sich Szenen ab, die eher an Einsätze der israelischen Streitkräfte während der palästinensischen Intifada erinnerten.

Präsident Rivlin solidarisierte sich indessen mit den äthiopischen Juden, den sogenannten Falascha. Er sprach von einer „offenen und schmerzenden Wunde im Herzen der israelischen Gesellschaft“ und räumte ein, dass Fehler gemacht wurden. Dennoch sei „Gewalt kein Weg zu einer Lösung“.

Alle paar Jahre reißt der Geduldsfaden der äthiopischen Juden, die in zwei großen Einwanderungswellen Mitte der 1980er- und in den frühen 1990er-Jahren nach Israel gekommen sind. Unter dem Codenamen Operation Moses und Operation Salomon hatte Israel jeweils zehntausende Falascha mittels einer Luftbrücke quasi über Nacht aus Äthiopien ausgeflogen, was die Israelis anfangs auch mit patriotischem Überschwang quittierten.

Rund 130.000 äthiopische Juden leben in Israel, sie machen drei Prozent der Bevölkerung aus. Die erste Enttäuschung für sie kam mit Berichten über Blutkonserven von äthiopischen Spendern, die Mitarbeiter des „Roten Davidsterns“ aus Angst, sie könnten mit Aids infiziert sein, in den Müll warfen. Für Aufruhr sorgte Jahre später der Skandal um das Verhütungsmittel Depo-Provera, das äthiopischen Frauen oft unter Zwang gespritzt wurde und das die Geburtenrate um 20 Prozent fallen ließ. Vor drei Jahren schließlich enthüllte der israelische Fernsehsender Channel 2 einen Geheimpakt von 120 Hausbesitzern in der Kleinstadt Kirjat Mal'achi, die sich weigerten, Wohnungen an äthiopische Immigranten zu verkaufen oder zu vermieten.

Ein Drittel ist arbeitslos

„Seit wann ist Farbe ein Verbrechen?“, fragte einer der Demonstranten auf einer Tafel. Die meisten Demonstranten kamen aus Solidarität mit Pakada und aus Frust über Rassismus und Diskriminierung. Einer von „Haaretz“ veröffentlichten Untersuchung zufolge liegt die Arbeits- und Armutsrate weit über dem Landesdurchschnitt. 38,5 Prozent der äthiopisch-stämmigen Israelis leben unter der Armutsgrenze, rund ein Drittel ist arbeitslos.

Auf einen Blick

Falascha. Rund 130.000 äthiopische Juden leben in Israel. Sie bezeichnen sich als Falascha, als Nachfahren von Juden, die der Legende nach unter der Königin von Saba ins Hochland von Äthiopien eingewandert sind. In großen Luftbrücken – vor allem der Operation Moses (1984/1985) und der Operation Salomon (1991) – holte Israel die Juden wegen der zunehmenden Unterdrückung aus Äthiopien zurück. Mittlerweile klagen sie über Diskriminierung in Israel.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.05.2015)

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