Wahlkampf: Erdoğan kann's nicht lassen

TURKEY
TURKEY(c) APA/EPA/DENIZ TOPRAK
  • Drucken

Der Präsident bricht mit einer Usance: Er mischt im Parlamentswahlkampf mit – und geht auch neuerlich auf Tour nach Deutschland.

Istanbul. Er ist ständig auf Achse und kämpft um jede Stimme: Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan reist unermüdlich durch das Land und will bei einem Auftritt in Deutschland an diesem Sonntag auch die türkischen Wähler in Europa ansprechen. Erdoğan plant in Anatolien nicht weniger als 35 Auftritte bis zum Tag der türkischen Parlamentswahl am 7. Juni und ist damit einer der eifrigsten Wahlkämpfer des Landes. Die Sache hat nur einen Schönheitsfehler. Eigentlich darf der 61-Jährige als Staatspräsident überhaupt nicht am Wahlkampf teilnehmen.

Der Amtseid des türkischen Präsidenten verpflichtet das Staatsoberhaupt ausdrücklich zur Unparteilichkeit. Verfassungsartikel 101 untermauert diese Verpflichtung durch die Auflage, dass ein neu gewählter Präsident alle Parteiämter und auch sein Parlamentsmandat aufgeben muss.

Erdoğan hat zwar den Vorsitz der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP offiziell abgegeben, doch auch ohne Parteiamt ist er der Chef geblieben. Er hat sogar schon einige Kabinettsitzungen als Präsident geleitet. Na und?, lautet die Antwort Erdoğans. Angesichts der Bedeutung der Wahl im Juni sei es für ihn undenkbar, „in der Ecke stehen zu bleiben“. Er werde auch weiterhin seine Meinung sagen.

Damit rechtfertigt Erdoğan seinen Einsatz für die AKP und die teils scharfen Angriffe auf die Opposition. Er verteidigt die Regierungsbilanz der AKP und liefert sich Fernduelle mit Oppositionspolitikern, obwohl er selbst nicht zur Wahl steht. Der amtierende AKP- und Regierungschef Ahmet Davutoğlu wird zur Randfigur.

Präsidialsystem als Ziel

Auch bei seinem Deutschland-Besuch am kommenden Sonntag dürfte er den gewohnt kämpferischen Stil pflegen. Offiziell will er sich mit der Visite in Karlsruhe nur für die Unterstützung der rund 2,8 Millionen türkischen Wähler im Ausland bei der Präsidentenwahl im Vorjahr bedanken. Doch die Begründung ist fadenscheinig: Die Beteiligung der Auslandstürken an der Präsidentschaftwahl lag nur bei 8,6 Prozent. Der wahre Grund für Erdoğans Deutschland-Reise ist der Wahlkampf vor dem 7. Juni.

In der Türkei selbst ist der Präsident viel in den östlichen Landesteilen der Türkei unterwegs, denn er will konservative kurdische Wähler ansprechen und so einen Parlamentseinzug der Kurdenpartei HDP verhindern. Wenn die HDP die Zehn-Prozent-Hürde überwindet und Abgeordnete ins neue Parlament schickt, wird nichts aus Erdoğans großem Plan: Er will nach der Wahl mit Hilfe von Verfassungsänderungen ein Präsidialsystem einführen. Dafür braucht er die Unterstützung von mindestens 330 der 550 Abgeordneten im Parlament.

Laut Umfragen liegt die AKP bei etwa 42 Prozent und ist weit von der Zahl von 330 Abgeordneten entfernt; bei der letzten Wahl vor vier Jahren erhielt die AKP fast 50 Prozent und 326 Abgeordnete. Mit der HDP im Parlament würde es noch schwieriger für die Erdoğan-Partei, die ersehnte Marke zu erreichen.

Zum ersten Mal seit mehr als zwölf Jahren AKP-Alleinregierung muss sich die Erdoğan-Partei mit dem Gedanken von Stimmenverlusten anfreunden. Die nachlassende Konjunktur und die steigende Arbeitslosigkeit sind ebenfalls ein Problem für die Regierung. Umso stärker legt sich der Präsident für die AKP ins Zeug. HDP-Chef Demirtaş wollte ihm das nicht durchgehen lassen. Er protestierte bei der Wahlkommission gegen den Wahlkampfeinsatz, wurde aber abgewiesen. Demirtaş gibt nicht auf.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.05.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

ROMANIA TURKEY DIPLOMACY
Außenpolitik

Erdogan in Deutschland: Opposition zieht vor Gericht

Der türkische Staatspräsident tritt wenige Wochen vor der Parlamentswahl in Karlsruhe auf. Die oppositionelle kurdische HDP beschwert sich über unerlaubte Wahlkampfhilfe.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.