Asyl: Die Mär von der Schmuggel-Mafia

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Der EU schweben ein Militäreinsatz gegen Menschenschlepper-Banden in Nordafrika vor. Doch der Massenflucht nach Europa täte das vermutlich keinen Abbruch. Denn sie ist weit weniger organisiert, als viele glauben.

Die deutschen, französischen und britischen Kampfhubschrauber kommen am späten Nachmittag. Die Boote im kleinen, überschaubaren Hafen von Zuwara sind schnell zerstört. Auch die Schiffe in den Trockendocks werden nicht verschont. Von der Küstenstadt am libyschen Mittelmeer fahren die meisten Flüchtlingsschiffe Richtung Europa ab. Von hier aus sind es nur 154 Seemeilen, umgerechnet 291 Kilometer bis nach Italien. Gleichzeitig zum Einsatz an der Küste fliegen Eurofighter über die libysche Wüste, vernichten versteckte Schlauchbootfabriken, Lkw-Depots und Häuser, die als Zwischenlager für Flüchtlinge dienten.

Was wie Filmszenen aus einem Science-Fiction- oder Actionfilm wirkt, könnte bald Realität werden. Die Europäische Union will im Notfall auch militärisch gegen Schlepper- und Schleuserbanden vorgehen, um den Flüchtlingsstrom zu stoppen. Das könnte sogar Bodentruppen beinhalten, wie jetzt ein 19-seitiges Strategiepapier zeigt.

Man will die Infrastruktur der Schmuggler – Häfen, Ankerplätze und Schiffe – noch an Land zerstören. Die Operationen sollen von Spezialeinheiten durchgeführt werden. Daneben sind Patrouillen, Teams zum Entern von Booten und amphibische Einheiten geplant. Man will zu Wasser, aus der Luft und auf dem Boden gegen Schmuggler vorgehen.


Die Hochsaison beginnt erst. Federica Mogherini, die EU-Außenbeauftragte, reiste deshalb neulich nach New York. Sie warb im UN-Sicherheitsrat für ein „robustes Mandat“ für einen Militäreinsatz. Das ist nötig, um in den Hoheitsgewässern und auf dem Boden Libyens Operationen durchzuführen.

2014 überquerten 219.000 Flüchtlinge das Mittelmeer. In diesem Jahr sind es bisher an die 40.000 Menschen gewesen – und dabei hat die Hochsaison der Sommermonate noch nicht begonnen. Nachrichten von europäischen Rettungsaktionen im Mittelmeer verbreiten sich in Afrika und anderswo wie ein Lauffeuer. Wer noch nicht die Koffer gepackt hat, wird das jetzt tun.

Aber wie sinnvoll wäre ein Militäreinsatz wirklich gegen das Netzwerk von Menschenschmugglern? „Ich frage mich ernsthaft, was man überhaupt bombardieren, beschießen und zerstören will?“, sagt Carmen González Enríquez, die Migrationsforscherin des renommierten Real-Elcano-Instituts in Madrid. „Fabriken, Häuser, Häfen? Da sind doch überall Menschen, die zu Schaden kommen könnten.“ Außerdem, woher wolle man die Informationen für die Auswahl von Zielen nehmen, fragt González weiter, die bei zahlreichen Forschungsprojekten mitwirkte, die im EU-Auftrag stattfanden.

In Libyen herrscht Bürgerkrieg, es gibt zwei rivalisierende Regierungen, die weder Zeit noch Kapazitäten haben dürften, ihre eigenen Landsleute auszuspionieren. Ein Militäreinsatz könnte zudem den bestehenden Konflikt im ölreichen Land weiter zur Eskalation bringen. Angeblich haben sich islamistische Milizen, darunter die al-Qaida-Gruppe Ansar al-Sharia sowie die Terrormiliz Islamischer Staat (IS), bereits entlang der Küste positioniert. Sie sollen Stellungen mit Luftabwehrgeschützen und schwere Artillerie aufgebaut haben. Die radikalen Islamisten kassieren von den Menschenschmugglern angeblich Steuern. Eine Intervention aus dem Westen käme ihnen gerade recht. Damit könnten sie endlich die „Ungläubigen“ direkt bekämpfen, die in ihren Augen einen Krieg gegen Muslime führen. Es wäre zudem ein Grund mehr, Attentate auf dem europäischen Kontinent durchzuführen.


Ablenkungsmanöver. „Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was das alles soll“, meint die Migrationsexpertin mit einem beinahe schon spöttischen Unterton. „Mit einem Militäreinsatz erreicht man nichts.“ Ihrer Meinung nach sollte in die Transitländer Nordafrikas investiert und für eine humane Unterbringung gesorgt werden. „Damit bekommt man die Flüchtlinge am ehesten aus den Händen der Schmuggler.“ Für González ist der erklärte Kampf gegen Menschenschmuggler mehr ein politisches Ablenkungsmanöver als ein sinnvoller Ansatz, um das Flüchtlingsproblem in Nordafrika zu lösen.

Die spanische Migrationsforscherin mag damit nicht ganz unrecht haben. Die Schmugglerbanden und die Mafia der Menschenhändler werden von der EU und auch sonst gern als Hauptschuldige hinter den Tausenden von Flüchtlingen ausgemacht. „Sie sind es, die die Menschen nach Europa locken, um ein lukratives Geschäft zu machen“, erklärte Abdelmalik El Barkani, der Vertreter der spanischen Regierung in Melilla. Das ist, neben Ceuta, die zweite Enklave Spaniens auf marokkanischem Territorium. Ihre Grenzzäune versuchen fast täglich Hunderte zu überqueren. Die Auffanglager der Enklaven sind überfüllt.

Aber die Meinung Barkanis und der EU über die Menschenschmuggler ist zu vereinfachend und stimmt mit der Realität nicht überein. Die Mafianetzwerke mit festen Strukturen, die man zerstören will, existieren nämlich nicht. Es sind stattdessen äußerst lose Verbindungen, die den gesamten Flüchtlingsverkehr bis in den Norden Afrikas regeln. Wie „Die Presse“ in den vergangenen Jahren bei Recherchen in Mali, Niger, in Libyen und Syrien, in der Türkei oder auch in Marokko feststellen musste, sind es allein die Flüchtlinge und ihre Familien, die beschließen, sich ins goldene Paradies nach Europa aufzumachen. Es gibt keine Schmuggleragentur, die sie zur Reise lockt oder sogar treibt. Vielfach sind es Freunde oder Verwandte, die in Spanien, Frankreich oder Deutschland leben und ihnen Immigration schmackhaft machen.

Von diesen bekommt der Bruder, Cousin oder Freund Tipps und Ratschläge, wie man am besten die Mittelmeerküste erreicht. Oft entscheidet der Zufall, ob Flüchtlinge in Libyen, Algerien oder Marokko landen. Es kommt auf die Empfehlungen ihres Kontakts an, welche Route sie nehmen und an wen sie nach der Durchquerung der Sahara gelangen. Im Süden Libyens, in den Wüstenstädten Sabah oder al-Kufra, hängt es davon ab, wem man zufällig in die Arme läuft oder wessen Telefonnummer man bekommen hat. Dort entscheidet sich, ob man in Zuwara, Tripolis oder in Misrata landet. Unter Umständen erhält man dort bereits einen Kontakt zu einem Schiffseigentümer. Sicher ist das aber nicht.

Einige der Flüchtlinge arbeiten auch unterwegs, oft monatelang, um ihre Reise zu finanzieren und nichts von der zurückgelegten Summe für den Bootsplatz nach Italien auszugeben. Es ist irrig zu glauben, man könnte bei einer Art Agentur von Menschenschmugglern ein komplettes Reisepaket, etwa aus dem Tschad oder dem Sudan, bis nach Europa buchen.

Das funktioniert höchstens für eine Teilstrecke auf dem viele tausend Kilometer langen Weg. Und nicht zu vergessen: Die meisten der Flüchtlinge ziehen eine „Individualreise“ vor. Mit traditionellen Verkehrsmitteln glauben sie, billiger wegzukommen. Eine Reise buchen, das können nur diejenigen, die das nötige Kleingeld haben. Sie kaufen sich ein Flugticket und, wenn nötig, dazu auch einen Pass.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.05.2015)

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