Lettlands "fataler Fehler" mit den Russen

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Ein Drittel der Einwohner der baltischen Ex-Sowjetrepublik gehört der russischsprachigen Minderheit an, mehr als 200.000 sind nicht als Bürger anerkannt. Die Ausgrenzung eröffnet Moskau ein Einfallstor.

Eines Tages bin ich aufgewacht und war kein Bürger mehr“, sagt Dimitrij Prokopenko aus Riga, Lettland, und bestellt einen Tee. Auf Russisch. Der 32-jährige IT-Experte gehört zur russischsprachigen Minderheit, die etwas mehr als ein Drittel der Bevölkerung in der Ex-Sowjetrepublik ausmacht. In keinem anderen EU- oder Nato-Land ist der Anteil höher. Prokopenko ist zugleich einer von immer noch 262.000 sogenannten Nichtbürgern. Das sind vor allem ethnische Russen, die nach der Unabhängigkeit keine Staatsbürgerschaft erhalten haben, auch wenn sie bereits Jahrzehnte in Lettland gelebt haben. Diese Nichtbürger, immerhin zwölf Prozent der Bevölkerung, dürfen nicht wählen, politische Ämter bleiben ihnen genauso wie viele Posten im Staatsdienst verwehrt – vom Richter bis zum Polizisten.

Die Krim-Annexion und die begleitenden Parolen vom „Schutz der russischen Landsleute“ schüren nun in der 2,2 Mio. Einwohner zählenden Ex-Sowjetrepublik die historische Angst vor dem östlichen Nachbarn. Könnte Moskau auch russische Letten aufwiegeln?


Spaltungsversuche. Die russischsprachige Minderheit sei loyal zu Lettland, sagt Verteidigungsminister und Präsidentschaftskandidat Raimond Vējonis zur „Presse am Sonntag“. Umfragen bestätigen ihn. Zugleich gibt es aber Versuche Russlands, „die Gesellschaft in einen lettischsprachigen und russischsprachigen Teil zu spalten“, so Vējonis: „Die größte Provokation ist diese gewaltige Propaganda.“ Sorgen bereiten ihnen hier also in erster Linie nicht irgendwelche Panzer jenseits der 217 Kilometer langen Grenze zu Russland, sondern die Fernseher in den Wohnzimmern der russischsprachigen Letten, die etwa recht konzentriert in der Grenzregion Lettgallen leben.

Und Lettland reagiert. Im Vorjahr wurde zwischenzeitlich das russische Staatsfernsehen abgedreht. Zugleich gibt es Pläne, einen eigenen russischsprachigen Staatssender hochzuziehen, um der russischsprachigen Propaganda beizukommen. Das ist beachtlich in einem Land, in dem vor drei Jahren noch eine Mehrheit von 75 Prozent in einem Referendum Russisch als zweite Amtssprache abgelehnt hat und in dessen Schulen ab einer gewissen Altersstufe der Unterricht zu 60 Prozent auf Lettisch zu erfolgen hat.

Kluft an der Wahlurne. Für die russische Minderheit hat man in Lettland nicht viel getan, sagt Jan Techau vom Thinktank Carnegie Europe. „Das war vielleicht historisch verständlich, aber als Investition in die Zukunft ein fataler Fehler.“ Diese Minderheit sei nun ein Einfallstor für Russland, um Einfluss auf die Regierung in Riga und so die EU-Politik zu gewinnen. In Lettland brauche es nun also vor allem interne Reformen, „um diese Menschen zu integrieren, von denen ja niemand Lust hat, nach Russland zurückzukehren.“

Im Alltag gibt es schon jetzt keine große Kluft zwischen ethnischen Letten und Russen, aber an den Urnen, wo noch immer entlang sprachlicher Trennlinien gewählt wird, und danach, bei der Regierungsbildung: „Man zeigt den Russischsprachigen: Ihr seid von diesem Prozess ausgeschlossen. Das ist gefährlich“, sagt Nils Ušakovs – nicht ohne Hintergedanken. Der 38-Jährige ist Chef der sozialdemokratischen, prorussischen Partei „Harmonie“, die aus den Parlamentswahlen 2011 und 2014 als stärkste Kraft hervorgegangen ist, aber noch nie in der Regierung saß. Zugleich ist Ušakovs der erste ethnische Russe im Amt des Bürgermeisters von Lettlands Hauptstadt Riga.

Der Jungstar der lettischen Politik ist so charismatisch wie undurchsichtig: Ušakovs hält enge Bande zu Russland, wenn die lettische Staatsspitze zum Nato-Gipfel fliegt, reist er nach Moskau. Mit der Partei von Putin („Russlands bestem Präsidenten“) besteht eine Kooperation. Sanktionen lehnt er ab: „Es ist doch kein EU-Ziel, die russische Wirtschaft zu ruinieren.“ In Riga sei dadurch der Anteil der russischen Touristen von 31 auf 18 Prozent abgestürzt. Exporte gen Osten würden einbrechen.

Zugleich ist der Stadtchef erklärter Gegner der Krim-Annexion. Und er räumt ein, dass ihm die Art der Berichterstattung im russischen Fernsehen „manchmal Angst macht“, um schnell hinzuzufügen: „Die im ukrainischen Fernsehen aber auch.“ Seine eigene Mutter hat ihn übrigens nie gewählt, erzählt Ušakovs. Eine Nichtbürgerin.

Vor 24 Jahren hatten die Letten in Riga mit ihren Barrikaden gegen die Sowjets die Freiheit errungen – und noch im selben Jahr beschlossen, allen die Staatsbürgerschaft zu verwehren, die erst nach Beginn der sowjetischen Besatzung 1940 ins Land kamen, darunter viele russische Arbeiter und Militärs. Mittlerweile gibt es recht einfache, aber von vielen als demütigend empfundene Einbürgerungstests, in denen lettische Sprachkenntnisse und Geschichtswissen abgeklopft werden.Die Zahl der Nichtbürger sank zwar stark von mehr als 700.000 auf eben 262.000. Allerdings wurden „nur“ 142.000 eingebürgert. Ein großer Teil nahm die russische Staatsbürgerschaft an, wanderte aus oder starb. Die Mehrheit der Nichtbürger ist über 60 Jahre alt.

Einen Vorteil haben die blauen Reisepässe der Nichtbürger auch, die sich auch farblich von den roten Pässen der Letten unterscheiden: Ihre Besitzer können sowohl innerhalb der EU als auch nach Russland ohne Visum reisen, von Lissabon bis Wladiwostok sozusagen. Viele hätten deshalb gar kein Interesse daran, Bürger zu werden, hört man in den kopfsteingepflasterten Gassen von Riga. Ist das Problem mit den Nichtbürgern also von Moskau kreiert?

Geld aus Russland. Elizabete Krivcova schüttelt den Kopf: „Wenn du für Minderheitenrechte wirbst, dann wirst du als Moskauer Agentin abgestempelt. Egal, ob du von Russland Unterstützung bekommst oder nicht“, sagt die Anwältin aus Riga. Also, gibt es nun Unterstützung aus Moskau? „Es gibt russische Fonds, die Kulturveranstaltungen finanzieren, Geld für Kriegsveteranen und Bücher für Schulen“, sagt sie. Eine fünfte Kolonne sei man deshalb nicht: Man fühle sich als russischsprachige Letten. Als Europäer. Und dann kommt ein „Aber“, wie in so vielen Sätzen über das lettisch-russische Verhältnis: „Aber natürlich gibt es Sympathien für Russlands Kultur und auch Politik“, sagt Krivcova. „Früher war die Sache eindeutig: Russland ist ein Freund und will uns unterstützen“, sagt sie. „Aber ich brauche keine Militärhilfe von Russland“, so Krivcova. Ihr Vater, erzählt die Anwältin, trat einst auch für die Unabhängigkeit ein.

Den Einbürgerungstest habe er danach immer verweigert – aus Groll, ihn überhaupt ablegen zu müssen. Nichtbürger aus Prinzip.

So wie Prokopenko, der IT-Experte. Den Test würde er zwar schaffen, sagt er, aber seine über 90 Jahre alte Oma nicht. Wenn sie nicht kann, dann will er auch nicht. Der 32-Jährige hat zudem Probleme mit der Justiz, wie er erzählt. Weil er bei einer „Spendensammlung“ für den Donbass half. Prokopenko wäre grundsätzlich gern lettischer Bürger, behauptet er und sagt dann im nächsten Satz: „Russland ist mir näher als Lettland. Sie tun hier alles dafür, dass ich mich nicht als Lette fühle.“ Das heiße nicht, dass er eine Intervention wolle. „Nur eine gut Partnerschaft.“ Aber natürlich würde er sich als Russe niemals Russen in den Weg stellen. Und irgendwann sagt er aus heiterem Himmel dann noch: „Lettland war länger Teil Russlands als die Krim.“

SCHWERES ERBE

Zwangssowjetisiert.
Wie seine beiden Nachbarn Estland und Litauen ist auch Lettland 22 Jahre nach der Unabhängigkeit von Russland 1918 im Jahr 1940 zwangssowjetisiert worden. Gleich zu Beginn des Russland-Feldzugs geriet es unter Besetzung durch Nazideutschland. Hitler nützte den Hass der Letten auf den östlichen Nachbarn aus, und so kämpften 140.000 lettische Soldaten aufseiten der Deutschen.

Stalin rächte sich nach 1944: Bis zu seinem Tod 1953 wurden etwa 120.000 Letten inhaftiert, nach Sibirien deportiert und zum Teil ermordet. Diese Zahlen sind noch immer umstritten, geben aber eine Idee von den Dimensionen des historischen Mühlsteins, den das Land bis heute mitschleppt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.05.2015)

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