Eine Abstimmung über das System Erdoğan

TURKEY ELECTIONS ERDOGAN RALLY
TURKEY ELECTIONS ERDOGAN RALLY(c) APA/EPA/PRESIDENTIAL PRESS OFFIC (PRESIDENTIAL PRESS OFFICE / HAND)
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Vor der Parlamentswahl am Sonntag dämmert vielen Türken, dass der Staatspräsident zu mächtig geworden ist.

Istanbul. In der Türkei stimmen die Wähler am Sonntag nicht nur über ein neues Parlament, sondern auch über die Machtambitionen ihres Präsidenten, Recep Tayyip Erdoğan, ab. Der 61-Jährige hat in den vergangenen Jahren ein Gefüge aus Loyalitäten und Begünstigungen aufgebaut, das nur bei einem erneuten deutlichen Wahlsieg seiner Regierungspartei AKP weiterbestehen kann. Für viele Erdoğan-Kritiker im Land bietet die Wahl deshalb eine Gelegenheit, dieses System aus den Angeln zu heben. Bei vielen Wählern ist das Gefühl spürbar, dass Erdoğan zu mächtig geworden ist. Die „Erdoğan muss gestoppt werden“-Partei sei inzwischen die größte des Landes, so Publizist Ates Ilyas Bassoy. Erdoğan hat die Wahl zu einer Volksabstimmung über seinen Plan zur Einführung eines Präsidialsystems erklärt. Kritiker werfen ihm vor, er wolle Regierung und Parlament kaltstellen und alle Macht an sich reißen.

„Haben die Leute genug von Erdoğan?“

Es geht auch um die Frage, „ob die Leute von Erdoğan genug haben“, wie es der Kolumnist Okay Gönensin formuliert. Erdoğan dominiert die politische Szene der Türkei wie kein anderer Politiker seit Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk. Erdoğan, seit 2003 Premier und seit August Präsident, ist unter anderem wegen der Erfolge seiner Wirtschaftspolitik zum politischen Superstar geworden. In der politischen Arena brach er den undemokratischen Machtanspruch der putschfreudigen Militärs und ermöglichte den lang benachteiligten fromm-konservativen Anatoliern neue Aufstiegschancen. Zumindest in der ersten Phase seiner Ära brachten Reformen mehr Freiheitsrechte für alle.

Heute geht Erdoğan rücksichtslos gegen angebliche oder tatsächliche politische Gegner vor. Er ließ 2013 die Gezi-Proteste zusammenknüppeln und würgte Korruptionsermittlungen gegen seine Regierung ab. Laut einer Umfrage finden 56 Prozent der Türken, die Meinungsfreiheit sei in Gefahr.

In Ankara fußt das System Erdoğan auf einem Netzwerk aus Abhängigkeiten und Loyalitäten. Der Präsident sieht sich als obersten Repräsentanten des „nationalen Willens“, Säuberungsaktionen haben tausende Anhänger des vom Unterstützer zum Erzfeind gewordenen islamischen Predigers Fethullah Gülen aus der Polizei und der Justiz entfernt. Auch als Präsident, der sich laut Verfassung aus der Tagespolitik heraushalten muss, hält er die Fäden in der Regierung und in der AKP fest in der Hand.

Sultansgehabe

Nominell unabhängige Institutionen wie der Richterrat, der über die Besetzung von Justizposten entscheidet, sind mit Erdoğan-Anhängern besetzt, Unternehmer wurden mit milliardenschweren öffentlichen Aufträgen auf Linie gebracht. Öffentliche Medien wie der Fernsehsender TRT oder die Nachrichtenagentur Anadolu verwandelten sich in Sprachrohre der Regierung. Der Präsident kann Karrieren beschleunigen oder beenden.

Kurz nach Amtsantritt als Präsident bezog Erdoğan einen protzigen neuen Palast, dessen Bau rund eine halbe Milliarde Euro kostete. Im Palast lässt er einen Trupp Wachsoldaten bei offiziellen Anlässen in historischen Kostümen antreten, die glorreiche Zeiten repräsentieren sollen. Kein Wunder, dass Kritiker ihm Sultansgehabe vorwerfen. Selbst in der AKP kritisieren manche, Erdoğan umgebe sich in seinem Beraterstab mit Jasagern und Schmeichlern. Regierungssprecher Bülent Arınç sagte, möglicherweise komme einst der Tag, an dem er ausrufen werde: „Aber der Kaiser ist ja nackt!“ Kürzlich sagte die nationalistische Erdoğan-Gegnerin Meral Akşener, Premier Ahmet Davutoğlu erzähle hinter vorgehaltener Hand, Erdoğan habe den Verstand verloren. Im Wahlkampf warben Davutoğlu und Erdoğan für eine möglichst große Mehrheit im neuen Parlament, damit Erdoğan die Verfassungsänderungen für sein geplantes Präsidialsystem durchsetzen kann. Mindestens 330 der 550 Sitze sind dafür erforderlich, doch den Umfragen zufolge liegt die AKP unterhalb dieser Marke. Nach einigen Befragungen könnte die AKP sogar ihre absolute Mehrheit einbüßen.

ZUR PERSON

Recep Tayyip Erdoğan. Der 61-Jährige ist in der Türkei zur mächtigsten Figur seit Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk avanciert. Im Vorjahr ließ Erdoğan sich zum Präsidenten wählen, seither residiert er im Präsidentenpalast, einem Protzbau, der die neue Präsidialrepublik symbolisieren soll. Als Bürgermeister von Istanbul schuf er sich eine Basis im konservativ-religiösen Milieu. In seiner elfjährigen Ära als Premier lancierte er Wirtschaftsreformen, ging aber massiv gegen seine Gegner vor.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.06.2015)

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