Nach Niederlage bei Parlamentswahlen sucht die Regierungspartei AKP einen Koalitionspartner. Der Dämpfer für Präsident Erdoğan bietet indes auch eine große Chance für das Land.
Istanbul. Die Jahre der Einparteienherrschaft in der Türkei sind vorüber, und es steht die schwierige Suche nach einer Regierungskoalition bevor. Die AKP von Präsident Recep Tayyip Erdoğan ist schwer getroffen, während der Erfolg der Kurdenpartei HDP all jenen Auftrieb gibt, die sich von der Erdoğan-Partei in letzter Zeit unterdrückt fühlten. Doch die Unsicherheit nach dem Wahltag könnte für das Land eine neue Chance sein.
Innenpolitisch dürften die AKP und Präsident Erdoğan in ihren autoritären Tendenzen gebremst werden. Da sie ihre Regierungsmehrheit im Parlament verloren haben, sind sie auf Hilfe angewiesen. Die Suche nach Bündnispartnern wird nicht einfach, weil es erhebliche inhaltliche Differenzen zwischen den Parteien gibt und im Wahlkampf besonders von der AKP viel Porzellan zerschlagen wurde. Möglicherweise wird die AKP am Ende auch ohne Regierungsbeteiligung dastehen, wenn sich die anderen drei im Parlament vertretenen Parteien auf eine Zusammenarbeit gegen die Erdoğan-Partei verständigen.
Wie immer das Gerangel ausgeht: Mit derselben Verachtung für die Meinung anderer Akteure wie bisher wird die Erdoğan-Partei nicht weitermachen können. Die Wähler verpassten der sieggewohnten Partei einen gehörigen Schuss vor den Bug. Zugleich hat das Selbstbewusstsein der Erdoğan-Gegner zugenommen. Das gilt nicht nur für die HDP, sondern auch für die Zivilgesellschaft: Zehntausende Freiwillige engagierten sich als Wahlbeobachter und verhinderten nach einigen Berichten mancherorts Manipulationen.
Manche glauben nicht daran, dass sich die AKP und Erdoğan ändern werden. Der Präsident müsse sich nun entscheiden, ob er sich an die Spielregeln der Verfassung halten wolle oder nicht, sagte der angesehene Meinungsforscher Tarhan Erdem. Wenn er sich weiter so aufführe wie bisher und alle Andersdenkenden ausgrenze, werde es unmöglich, zwischen den verschiedenen Parteien einen Kompromiss für eine Koalition zu finden.
Erdoğan hatte die Wahl zu einer Volksabstimmung über seinen Plan für ein Präsidialsystem erklärt, doch das Ergebnis ist für ihn eine Katastrophe. Das Resultat seien „60 Prozent gegen Erdoğan“, twitterte der Journalist Cengiz Candar. „Eine schwere Niederlage für ihn. Eine große Erleichterung für die Türkei.“
Wähler wollen Erneuerung
So macht sich die Hoffnung auf eine neue Zeit breit, in der Regierungsgegner nicht mehr jeden Tag beschimpft oder mit Strafanzeigen überzogen werden. Die Wähler wollten eine Erneuerung der Politik, sagte der Journalist Ali Bayramoğlu, einer der wenigen unabhängig gebliebenen Köpfe bei der regierungsnahen Zeitung „Yeni Safak“. Hayati Yazici, ein früherer Minister aus Erdoğans Regierung, forderte die AKP zur Selbstkritik auf. Selbst regierungsnahe Kommentatoren in der türkischen Presse fordern Selbstkritik und Erneuerung von der AKP.
Auch in der Außenpolitik könnte sich ein Wandel ankündigen. Beispiel Syrien-Konflikt: Möglicherweise wird sich die Türkei unter einer neuen Regierung von der bisherigen kompromisslosen Forderung nach einem Sturz von Präsident Bashar al-Assad lösen. Es ist kaum vorstellbar, dass künftige Koalitionspartner der AKP, die in der Opposition mutmaßliche Waffenlieferungen Ankaras an radikale Gruppen in Syrien anprangerten, in der Regierungsverantwortung genau diese Politik mittragen werden.
Ironischerweise könnte die nach den Wahlen entstandene Situation der politischen Unsicherheit der Türkei auch helfen, ihren Ruf im Nahen Osten aufzupolieren. Das Land hatte sich unter der AKP in den vergangenen Jahren regionalpolitisch immer weiter isoliert. Von der zur Zeit des Arabischen Frühlings viel beschworenen Vorbildfunktion einer muslimischen Demokratie ist nicht viel übrig.
Wenn es der Türkei nun aber gelingt, unter Beachtung des Wählerwillens die schwierige Koalitionssuche erfolgreich zum Abschluss zu bringen, könnte genau diese Vorbildrolle neu belebt werden. Die politischen Führer in Ankara könnten der Region zeigen, wie man mit schwierigen politischen Situationen fertigwird, ohne dass die Panzer rollen.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.06.2015)