Menschenrechte: Ägyptens verschleppte Jugendliche

(c) REUTERS (AMR ABDALLAH DALSH)
  • Drucken

Ägyptens Staatssicherheit ist brutaler denn je. Junge Aktivisten werden auf offener Straße oder aus dem Uni-Hörsaal entführt und verschwinden für immer.

Kairo. Eman Gad war in der ersten Ramadannacht auf dem Weg nach Hause, als plötzlich Männer die 20-Jährige in ein Auto zerrten und davonrasten. Bis in die frühen Morgenstunden suchten Freunde und Verwandte in Panik alle Polizeistationen im Sayeda-Zeinab-Viertel von Kairo nach der Verschwundenen ab – ohne Erfolg. Ihr letztes Lebenszeichen war ein kurzer Anruf bei einer Freundin. „Ich bin in einem dunklen Raum gefangen“, konnte die Studentin noch sagen, seitdem ist ihr Handy stumm.

Eman Gad ist kein Einzelfall. Seit mehreren Wochen erlebt Ägypten eine Welle von Entführungen von Dissidenten durch den Geheimdienst, die an den Schmutzigen Krieg der chilenischen Militärdiktatur von Augusto Pinochet erinnern. Mindestens 163 Studenten, Muslimbrüder und Demokratie-Aktivisten sind nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Freedom for the Brave seit Anfang April verschwunden – verhaftet auf der Straße oder zu Hause, in Restaurants oder beim Sport, in Universitäten oder Schulen.

„Es sind in Ägypten auch schon früher Menschen verschwunden, aber nie in einem solchen Ausmaß“, erklärte Freedom-for-the-Brave-Sprecher Abdel Hamid. Die Egyptian Coordination of Rights and Freedoms, die vor allem die Schicksale verschwundener Muslimbrüder dokumentiert, geht im gleichen Zeitraum sogar von mehr als 400 Fällen aus. Auf Facebook zirkulieren ebenfalls immer längere Listen. Die Dunkelziffer dürfte wesentlich höher liegen, weil viele Familien sich scheuen, an die Öffentlichkeit zu gehen.

Verstümmelte Leiche

Islam Ateeto wurde nach Augenzeugenberichten während einer Prüfung aus dem Hörsaal der Ain-Shams-Universität in Kairo geholt. Am nächsten Tag fanden Passanten die verstümmelte und von Kugeln durchsiebte Leiche des 23-Jährigen an einer Ausfallstraße 18 Kilometer vom Campus entfernt. Andere Opfer wurden von Unbekannten schwer zugerichtet nachts vor Notaufnahmen von Krankenhäusern abgelegt.

64 Verschwundene sind mittlerweile wieder aufgetaucht, die meisten gefoltert und verstört. Der Rest ist wie vom Erdboden verschluckt. Esraa El-Taweel wurde zwei Wochen nach ihrer Festnahme an der Nil-Corniche nur durch Zufall von einem Bekannten im al-Qanater-Gefängnis entdeckt. Einer ihrer beiden mitverhafteten Freunde soll im berüchtigten „Skorpion“-Hochsicherheitsgefängnis gesehen worden sein, einer unterirdischen Haftanstalt in der Wüste. Von ihrem anderen Begleiter fehlt nach wie vor jede Spur. Der 23-jährigen Fotografin soll nun der Prozess gemacht werden wegen „Verbreitung falscher Nachrichten über die angebliche Ungerechtigkeit der Justiz“ sowie „Verbreitung von Fotos angeblich ungerechtfertigter Gewalt gegen Demonstranten auf Twitter und an ausländische Instanzen“.

Regime bestreitet Kidnapping

Das Vorgehen der Staatssicherheit zeige, dass „Ägypten eine Repression erlebt wie seit Jahrzehnten nicht mehr“, urteilt Joe Stark von Human Rights Watch.

Das Innenministerium in Kairo dagegen bestreitet, dass es politisch motivierte Entführungen überhaupt gibt. Ägypten sei ein Rechtsstaat und niemand könne einfach so ohne Haftbefehl festgenommen werden, zitierte die Zeitung „Al-Shorouk“ einen Sprecher. Auch Ex-Feldmarschall und Präsident Abdel Fattah al-Sisi versprach seit Beginn des Jahres in zahlreichen Interviews mit internationalen Medien, die gröbsten Fälle von Polizei- und Justizwillkür durch eine Amnestie aus der Welt zu schaffen.

Zu Beginn des Ramadan Mitte letzter Woche begnadigte er nun 165 von abertausenden politischen Gefangenen, jedoch niemanden aus der Führung der Demokratiebewegung. „Alles, was falsch läuft in Ägypten, in einem einzigen Video“, kommentierte ein Twitterer den YouTube-Film eines der Sisi-Begnadigten. Es zeigt, wie ein Gefängnisbeamter ihn vor dem Hafttor zwingt, den staubigen Boden zu küssen. Erst dann durfte der Gedemütigte im Minibus davonfahren.

AUF EINEN BLICK

Ägyptens Staatssicherheit geht immer massiver gegen Kritiker vor. Zuletzt sind zahlreiche jugendliche Aktivisten verschwunden. Sie wurden auf offener Straße oder aus Universitätshörsälen verschleppt. Die Opfer sind nicht nur Sympathisanten der Muslimbruderschaft. Sie gehören auch liberalen Gruppen an. Laut Human Rights Watch erlebt Ägypten die schlimmste Repression seit Jahrzehnten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.06.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Medien

Berlin lässt Journalisten von al-Jazeera frei

Deutschland liefert den Journalisten Ahmed Mansour nach einer Welle der Empörung nicht nach Ägypten aus.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.