Türkei: Ankara plant Militärintervention in Syrien

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Erdoğans Kalkül besteht darin, zugleich den IS zu schwächen und einen Kurdenstaat zu verhindern. Die Armee ist skeptisch.

Istanbul. Bis vor einigen Tagen haben nur wenige Türken jemals von der nordsyrischen Kleinstadt Mare gehört. Jetzt ist die „Mare-Linie“ plötzlich in aller Munde – als Bezeichnung für einen Gebietsstreifen in Syrien, den die türkische Armee mit einer angeblich geplanten Militärintervention einnehmen will. Nach Presseberichten sollen fast 20.000 Soldaten und dazu auch Artillerie und Luftwaffe eingesetzt werden, um bis zu 30 Kilometer tief nach Syrien einzudringen. In wenigen Tagen soll der Einsatzplan stehen.

Die Regierung hielt sich zunächst bedeckt. Erst nach einer Sitzung des Nationalen Sicherheitsrats kündigte Außenminister Mevlüt ?avuşoğlu eine Stellungnahme an. Mit der Operation will Präsident Recep Tayyip Erdoğan zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Zum einen versucht Ankara, den Islamischen Staat (IS) zu schwächen und die westlichen Partner zu beruhigen. Zugleich will der Präsident mithilfe der Armee sein eigentliches Ziel erreichen und die Entstehung eines Kurdenstaates in Nordsyrien verhindern.

„Koste es, was es wolle“

Erdoğan betonte erst vor wenigen Tagen in einer Rede, die Türkei werde die Schaffung eines neuen Staates in Syrien nicht hinnehmen, „koste es, was es wolle“. Die nordsyrische Kurdenmiliz YPG, ein Ableger der türkisch-kurdischen Untergrundorganisation PKK, hatte in den vergangenen Wochen mehrere militärische Erfolge gegen den Islamischen Staat in Nordsyrien erzielt und damit das Kurdengebiet ausgeweitet.

Erdoğan und andere türkische Politiker sind besorgt, dass die Kurden nun versuchen werden, das derzeit vom IS beherrschte Gebiet entlang der Grenze westlich der kurdischen Stadt Kobane unter ihre Kontrolle zu bringen. Die Stadt Mare markiert das Ende dieses Gebietsstreifens; in der dortigen Gegend sind die prowestliche Freie Syrische Armee und andere Rebellengruppen am Ruder. Mit der Einnahme der rund 100 Kilometer langen Mare-Linie durch die türkische Armee will Erdoğan den Vormarsch der Kurden stoppen und dem Islamischen Staat alle noch vorhandenen Zugangswege aus der Türkei versperren.

Spekulationen über einen türkischen Einmarsch in Syrien gibt es schon lange. Ankara fordert seit Jahren die Einrichtung einer Pufferzone und die Verhängung eines Flugverbots über Nordsyrien, um eine Destabilisierung der eigenen Grenze zu verhindern und Flüchtlinge auf syrischem Gebiet versorgen zu können. Die UNO und die westlichen Partner lehnen die Forderung jedoch ab. Jetzt will Erdoğan offenbar im Alleingang handeln. In mehreren Besprechungen mit Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu, der Militärspitze und dem Geheimdienst sei das Thema laut Medienberichten erörtert worden.

Die türkischen Generäle haben demnach erhebliche Bedenken gegen den Plan und bestanden auf einem formellen schriftlichen Befehl der Regierung. Sie befürchten Vergeltungsaktionen des IS auf türkischem Boden sowie Zusammenstöße mit der syrischen Regierungsarmee – die Türkei könnte also vollends in den Syrien-Konflikt hineingezogen werden.

Zudem könnte die Intervention zu Konflikten zwischen der türkischen Armee und den syrischen Kurden führen und neue PKK-Gewalt in der Türkei auslösen. Auf internationaler Ebene drohe eine Verurteilung der Türkei wegen Besetzung fremden Staatsgebietes, argumentieren die Militärs.

Die regierungsnahe Zeitung „Yeni ?afak“ meldete, die westlichen Partner der Türkei, die syrische Regierung und deren Verbündeter Iran sollten vorab über die Intervention informiert werden. Eine von mehreren Varianten lautet, in dem von der türkischen Armee gesicherten Gebiet gemäßigte und nicht kurdische Rebellen auszubilden, denen die Gegend nach einem Rückzug der Türken überlassen werden soll.

Zeit für Regierung wird knapp

Für Streit zwischen Regierung und Armee sorgt die Tatsache, dass Premier Davutoğlu nur geschäftsführend im Amt ist und seit der Parlamentswahl vom 7. Juni keine parlamentarische Mehrheit mehr hat. Bis zur Bildung einer neuen Regierung unter Beteiligung einer der bisherigen Oppositionsparteien könnten Wochen vergehen. Die neue Regierung wird zudem möglicherweise eine neue Syrien-Politik einleiten: So ist die linksnationale Partei CHP, ein möglicher Koalitionspartner Davutoğlus, strikt gegen jede Verwicklung der Türkei in den Syrien-Konflikt.

AUF EINEN BLICK

Intervention. Über eine Militäroperation Ankaras im Norden Syriens wurde lange spekuliert. Eine Invasion der türkischen Armee soll der Ausbreitung der Kurdenmilizen, die der PKK nahestehen, Einhalt gebieten. Einen eigenen Kurdenstaat werde er nicht hinnehmen, erklärte Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Er will jetzt sogar im Alleingang handeln. Im türkischen Militär stößt der Plan allerdings auf Skepsis. Es befürchtet Vergeltungsschläge des IS und vollends eine Verwicklung in den Krieg in Syrien.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.06.2015)

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