Die Mehrheit der Bevölkerung im Iran begrüßt den Atom-Deal. Vor allem die jungen Bewohner leiden unter der erdrückenden Arbeitslosigkeit.
Kairo/Teheran. Nervös und gespannt warteten die Iraner in den letzten Tagen auf die erlösende Nachricht aus Wien. Immer wieder mussten sie ihre Jubelpartys verschieben, weil die Gespräche im Palais Coburg auf der Stelle traten. Doch nach dem feierlichen Schlussakkord am Dienstag gab es am Abend auf Teherans Straßen kein Halten mehr. Hupende Autokorsos kreisten durch die Hauptstadt. Zehntausende tanzten auf spontanen Straßenfesten, um das Ende der Sanktionen und der jahrzehntelangen Isolierung zu feiern. „Jeder Iraner heute ist glücklich“, sagte eine junge Frau dem Sender al-Jazeera. „Schade, dass das Ganze nicht schon früher passiert ist.“
Der Oberste Revolutionsführer Ali Chamene'i lud Präsident Hassan Rohani und das gesamte Kabinett zum Ramadan-Fastenbrechen in seine Residenz ein – ein Zeichen, dass auch der mächtigste Mann im Gottesstaat die Vereinbarung billigt.
Außenpolitik ist Innenpolitik, hatte Rohani von Anfang an als Leitmotiv seiner Präsidentschaft ausgegeben. Nach einer Atomeinigung werde sich auch das gesellschaftliche Leben in dem Gottesstaat lockern lassen, lautet das Kalkül der moderaten Führung. Denn vor allem die jungen Leute leiden unter erdrückender Arbeitslosigkeit und haben die religiös-ideologische Gängelei satt. Kein Wunder, dass die konservativen Widersacher des Präsidenten in Justiz, Parlament und revolutionären Garden bisher alles taten, um einen Atomkompromiss zu torpedieren und die ultraorthodoxe islamische Gesellschaftsmoral in ihrem Sinne festzuzurren. Seit Jahresbeginn ließ die Justiz 206 Menschen hinrichten, darunter auch politische Gefangene. Hunderte Studenten, Journalisten, Bürgerrechtler, Frauenrechtlerinnen, Künstler, Anwälte und Angehörige ethnischer Minderheiten wurden festgenommen unter dem Vorwand, sie hätten „Propaganda gegen das System gemacht“.
„Iran wird ein Riesengeschäft“
Die Mehrheit der Bevölkerung aber begrüßt das Ende des Atomkonflikts, der die iranische Wirtschaft gerade in den letzten Jahren vollends auf die Knie brachte. Hyperinflation, zweistellige Arbeitslosigkeit und Rezession lassen viele der 77 Millionen Bürger verzweifeln, von denen die Hälfte jünger als 30 Jahre ist. Der Erfolg in Wien könnte der Islamischen Republik endlich die dringend nötigen Investitionen bescheren.
Mehr als 100 Milliarden Dollar Öleinnahmen liegen festgefroren im Ausland, die in den kommenden Jahren in das Land zurückfließen werden. Zahlreiche europäische Nationen waren bereits mit Delegationen in Teheran, vor allem Autohersteller und Pharmakonzerne. Am Sonntag hat sich auch der deutsche Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel mit einer 60-köpfigen Delegation angesagt. Irans Öl- und Gasindustrie hat einen Investitionsrückstau von 50 bis 100 Milliarden Dollar. „Iran wird ein Riesengeschäft“, frohlockt ein westlicher Wirtschaftsexperte, „die Islamische Republik ist eine Goldgrube.“ (m.g.)
CHRONOLOGIE
Insgesamt 13 Jahre haben die Verhandlungen im Streit über das iranische Atomprogramm gedauert.
2002: Die iranische Exil-Opposition deckt die Existenz der Urananreicherungsanlage Natanz und Arbeiten am Bau eines Schwerwasserreaktors zur Plutoniumerzeugung in Arak auf.
Oktober 2003: Der Iran akzeptiert unangemeldete Inspektionen der IAEA.
August 2005: Der Hardliner Mahmoud Ahmadinejad wird neuer Staatspräsident und beginnt eine „No-Fear-Politik“.
2006: Die IAEA übergibt den Atomstreit an den UN-Sicherheitsrat. Der Iran nimmt die Urananreicherung wieder auf. Erste Sanktionen.
2012: Die EU beschließt ein Öl- und Gasembargo gegen Teheran; die USA lassen Vermögenswerte des Iran blockieren. Israel droht mit Militärschlag.
2013: Verhandlungen werden fortgesetzt. Am
20. November kommt es zum Interimsabkommen in Genf: Der Iran muss sein Atomprogramm für sechs Monate auf Eis legen. Dafür sollen Sanktionen gelockert werden.
2014: Neue Verhandlungen in Wien. Frist für Einigung wird mehrfach verlängert − bis zur Einigung.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.07.2015)