Obama im Endspurt: "Lahme Ente" wird flügge

July 15 2015 Washington District of Columbia United States of America United States President
July 15 2015 Washington District of Columbia United States of America United States Presidentimago/ZUMA Press
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Vom Iran über Kuba bis zur Gefängnisreform erzielt der US-Präsident im Schlussviertel seiner Amtszeit große Erfolge. Vom Druck der Wiederwahl befreit tut er, was er für richtig erachtet. Ob es hält, ist offen.

Der heurige Sommer ist bisher der vermutlich beste, den US-Präsident Barack Obama seit seinem Einzug ins Weiße Haus hatte. Er begann in der letzten Juniwoche mit zwei Urteilen des Supreme Court. Zunächst bestätigte das Höchstgericht die Verfassungsmäßigkeit einer wesentlichen Bestimmung des Affordable Care Acts, also der den Spitznamen Obamacare tragenden, vor fünf Jahren eingeführten allgemeinen Versicherungspflicht.

Nachdem somit der wohl letzte juristische Angriff der Republikaner auf Obamas wichtigste innenpolitische Reform mit sechs zu drei Stimmen abgeschmettert worden war, erklärte der Gerichtshof tags darauf die Ehe gleichgeschlechtlicher Paare für landesweit rechtens. Am Abend jenes 26. Juni erstrahlte das Weiße Haus, von Scheinwerfern illuminiert, in den Farben des Regenbogens.

Der vorletzte Sommer in der Ära Obama bringt dem Präsidenten jedoch auch außenpolitische Genugtuung. Vergangenen Dienstag schaffte sein unermüdlicher Außenminister John Kerry nach mehr als zwei Wochen zäher Verhandlungen im Wiener Hotel Coburg einen bedeutsamen Durchbruch im Verhältnis zum bisherigen Erzfeind Iran. Morgen, Montag, eröffnen die USA und Kuba nach mehr als einem halben Jahrhundert erstmals wieder normale diplomatische Beziehungen, wenn Kerry seinen Amtskollegen Bruno Rodriguez im State Department empfängt. Die kubanische Flagge wird erstmals seit 54 Jahren über der Botschaft in Washington flattern.

Auch über diese Bestätigungen seiner innen- und außenpolitischen Bemühungen hinaus ist Obama höchst aktiv. Vergangene Woche hat er unter anderem in Oklahoma als erster Präsident in der Geschichte der USA ein Gefängnis besucht, um für die Reform der Strafjustiz zu werben. „Viel zu oft ist unser Justizwesen eine Pipeline von unterfinanzierten Schulen in überfüllte Gefängnisse“, sagte Obama davor in einer Ansprache bei der Tagung der National Association for the Advancement of Colored People, die wichtigste schwarze Bürgerrechtsorganisation des Landes. „Die Vereinigten Staaten beheimaten fünf Prozent der Weltbevölkerung, aber 25 Prozent aller Gefängnisinsassen der Welt.“


Ungebrochener Tatendrang. Ein paar Tage zuvor hat er erklärt, drei Naturdenkmäler in Texas, Kalifornien und Nevada unter Schutz zu stellen; das betrifft Flächen von insgesamt mehr als 4000 Quadratkilometern. 16 solcher National Monuments hat Obama bisher in seiner Amtszeit geschaffen: mehr als jeder Präsident vor ihm. Ebenfalls in den jüngsten Tagen hat er per Erlass neue strenge Vorschriften zum Schutz der Gewässer vor der Verschmutzung durch die Kohleindustrie verfügt, und er hat vom Kongress das Mandat zu Verhandlungen über die beiden Freihandelsabkommen TPP (für den pazifischen Raum) und TTIP (für die Europäische Union) erhalten.

Wenn diese Aufzählung an in jüngster Zeit erzielten Erfolgen Obamas ein wenig willkürlich wirkt, liegt das am ungebrochenen Tatendrang dieses Präsidenten. Von der Erhöhung des Mindestlohns über die Ausweitung der Überstundenregelungen bis zur Einführung bezahlter Eltern- und Pflegekarenz reicht die Liste jener Anliegen, denen sich Obama mit der vollen Kraft seiner hunderttausende Aktivisten zählenden Plattform Organizing for America widmet.

Eine bemerkenswerte Entwicklung. Denn noch vor einem halben Jahr hatte es so ausgesehen, als würde Obama die letzten beiden Jahre seiner zweiten Amtszeit als lahme Ente, also ohne großen Handlungsspielraum, fristen müssen. Die Republikaner hatten im November vorigen Jahres die Mehrheit im Senat gewonnen und jene im Abgeordnetenhaus ausgebaut, und somit war klar, dass Obama der Pfad der gesetzgeberischen Reform im Sozialwesen, auf dem Arbeitsmarkt oder in der Umwelt- und Klimaschutzpolitik versperrt bleiben würde.

Zwar haben sich in der Geschichte der USA schon oft Präsidenten und Kongresse gegnerischer politischer Färbung als Ko-Gesetzgeber zu Kompromissen gefunden. Doch das Verhältnis zwischen Obama und der republikanischen Partei war von Anfang an schwer gestört. „Das Wichtigste, was wir erreichen wollen, ist dafür zu sorgen, dass Präsident Obama nur eine Amtszeit hat“, sagte Mitch McConnell, Chef der Republikaner im Senat, vor den Kongresswahlen 2010.

Damals verloren die Demokraten ihre Mehrheit im Abgeordnetenhaus. Folglich würde Obama auf gesetzgeberischem Weg nur mehr wenig durchsetzen können. Nun ging es für ihn darum, zumindest die demokratische Mehrheit im Senat verteidigen zu helfen; einige seiner Parteikollegen mussten bei den Kongresswahlen der Jahre 2012 und 2014 um ihre Ämter bangen.


Parteiräson war einmal. Um diese Kandidaten zu stützen, ging der Präsident zahlreiche Kompromisse ein, die ihm zutiefst zuwider waren. Besonders klar wurde das am Beispiel der Zuwanderungsreform. Obama hatte in den Monaten vor den Kongresswahlen 2014 stets öffentlich mit dem Gedanken gespielt, per Erlass den Vollzug der Immigrationsgesetze dahingehend zu lockern, dass vor allem illegal in den USA lebende Ausländer, die als Kinder ins Land gekommen sind, keine Angst mehr vor der Abschiebung haben müssen. Einige demokratische Senatoren in eher konservativen Teilstaaten machten Druck auf ihn, diese Pläne bis nach der Wahl zu verschieben. Das tat Obama – und hatte den doppelten Schaden: Zuwandererorganisationen, die stets zum Kern der demokratischen Wählerschaft zählen, wandten sich verärgert über dieses Taktieren ab, während die gefährdeten Senatoren trotzdem ihre Sitze im Kongress verloren.

Obama zog aus dieser Erfahrung sowie aus dem Umstand, dass er selbst nicht mehr zur Wahl steht, einen klaren Schluss. Ab sofort wird nur mehr gemacht, was er für richtig und wichtig hält, ohne Rücksicht auf die Parteiräson. Zwar sammelt er weiterhin Spenden für seine Partei, so auch am Samstagabend, als er zu einem Dinner in New York flog, das sich 30 Gäste jeweils 33.400 Dollar kosten ließen.

Doch inhaltlich lässt er sich von der Partei nicht mehr behindern. Ein anschauliches Beispiel dafür ist sein Werben um das Verhandlungsmandat für die Freihandelsabkommen: die Gewerkschaftsverbände, stets die größten Sponsoren demokratischer Kandidaten, laufen vor allem gegen das transpazifische Abkommen TPP Sturm. Obama gebrach es folglich im Kongress an den nötigen Stimmen seiner Parteikollegen. Also gab er einer von den Republikanern getragenen Mehrheit den Sanktus – und brachte den linken Parteiflügel der Demokraten zur Weißglut.

Was wirkt, wird gemacht, wer helfen kann, wird zum Verbündeten: Ein Geist des Pragmatismus weht durchs Weiße Haus, der sich zum Beispiel daran zeigt, dass Obamas Stab in der Frage der Strafjustizreform sogar mit den Koch-Brüdern zusammenarbeitet, jenen milliardenschweren konservativen Unternehmern, die zu den Königsmachern der republikanischen Partei zählen und in der Vergangenheit teure und untergriffige Kampagnen gegen Obama finanziert haben.


Auf Nixons Spuren. In der Außenpolitik wiederum erkennen viele Beobachter Parallelen zu Richard Nixons Entspannungspolitik gegenüber China und der Sowjetunion und zum Versuch, sich von den militärischen Desastern ihrer Vorgänger freizuspielen. „Nixon sah Vietnam ebenso als beispielhaft für größere konzeptuelle Fehler in der US-Strategie, wie Obama den Irak sieht“, schrieb, beispielhaft für viele Stimmen in diesem Chor, Charles Lane am Freitag in der „Washington Post“.

Obama und Nixon sind, wenn man Amerikas Verhalten auf der Weltbühne im 20. und 21. Jahrhundert betrachtet, Vertreter eines geordneten Rückzuges. Sie wechseln sich mit Maximalisten ab, die Amerikas nationale Interessen notfalls auch militärisch durchzusetzen versuchen, sagt der frühere Diplomat und Russland-Experte Stephen Sestanovich. Mit ihrem Rückzug von ausländischen Konfliktfeldern versuchen Präsidenten wie Obama und Nixon, Kapazitäten zur Bewältigung von Problemen daheim freizusetzen.

Diese Strategie ist jedoch in der heutigen vernetzten Welt nur mehr bedingt wirksam. Indem Obama zum Beispiel nun dem Iran als Folge des Wiener Abkommens die Rückkehr auf die Finanzmärkte ermöglicht, nimmt er in Kauf, dass die von Teheran gestützten Terrorgruppen und Milizen den Bruderkrieg im Nahen Osten zwischen Schiiten und Sunniten noch stärker anheizen. Das stärkt wiederum den Zulauf zur sunnitischen Terrorarmee des sogenannten Islamischen Staates, deren Sympathisanten auch vor Anschlägen in den USA nicht zurückscheuen, wie die Ermordung von vier US-Soldaten am Donnerstag in Chattanooga nahelegt.

Und ob Obamas per Erlass verfügte Reformen die nächste Präsidentenwahl überdauern, ist offen: Denn so, wie er per Federstrich Fakten schafft, könnte ein künftiger republikanischer Präsident sie wieder beseitigen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.07.2015)

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