Ein Sturm auf die britische Festung

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Tausende Flüchtlinge versuchen vom französischen Calais aus die Einreise. Das vermeintlich gelobte Land schaltet auf hart.

London. Sie versuchen es Nacht für Nacht, und sie setzen dabei nicht weniger aufs Spiel als ihr Leben. Sie haben es aus fernen Ländern wie Eritrea, dem Sudan oder Syrien bis an den Ärmelkanal geschafft, und da schreckt es viele nicht, auf einen fahrenden Frachtzug aufzuspringen, von dem sie hoffen, dass er sie durch den Eurotunnel aus Frankreich nach Großbritannien bringt. Nachdem die Situation in den letzten Tagen außer Kontrolle zu geraten schien und in der Nacht auf Mittwoch ein weiteres Menschenleben forderte, traf die Regierung in London zu einer Krisensitzung zusammen und beschloss weitere Maßnahmen zur Abschottung der Festung Großbritannien.

So sollen sofort sieben Millionen Pfund zur Verfügung gestellt werden, um den Zaun um das Anhaltelager Coquelles bei Calais in Nordfrankreich zu verstärken. Hier tauchen die Eurostar-Züge in den Tunnel ab, und rund 3000 Flüchtlinge befinden sich in unmittelbarer Nähe, festgehalten hinter Absperrungen. Sie greifen zu immer verzweifelteren Mitteln: In der Nacht auf Dienstag stürmten 2000 Menschen in den Tunnelbereich, in der folgenden Nacht waren es 1500.

Wenngleich die Sicherheitskräfte die Mehrzahl zurückdrängte, sind sie längst nicht mehr Herr der Lage. „Es ist Sache der Regierungen, für Ordnung zu sorgen. Sie müssen den Zustrom stoppen, aber es scheint, dass sie überfordert sind“, sagte ein Sprecher von Eurotunnel. Lebten in dem Lager im Vorjahr noch 800 Menschen, sind es mittlerweile mehr als 3000. Menschenschmuggler und -händler versuchen, aus der Verzweiflung der Flüchtlinge Kapital zu schlagen.

Für 6000 Euro per Taxi nach England

So kostet die Hilfe für einen Versuch des Übertritts nach Großbritannien 2000 Euro. Für 5000 Euro bekommt man eine „gesicherte Überstellung“, bei der es die Schmuggler so oft versuchen, bis die Passage gelingt. Wer 6000 Euro zahlt, wird mit dem Taxi von Calais nach Felixstowe befördert, falsche Papiere inklusive.

Weil aber die allergrößte Mehrheit diese Mittel nicht hat (und oft schon ein Vermögen an Schlepper bezahlt hat, um überhaupt nach Europa zu kommen), versuchen sie es immer wieder auf die gefährlichste Weise durch den Eurotunnel. 18.170 Versuche registrierten die Behörden zuletzt im Zeitraum von einem Jahr, allein im Sommer kamen neun Menschen ums Leben. Dennoch sehen sie keine andere Wahl: „Ich werde es wieder und wieder versuchen“ sagte Hamada, einer der Flüchtlinge.

Frankreich und Großbritannien hatten 2002 nach gewalttätigen Unruhen in dem Anhaltelager Sangatte eine Vereinbarung geschlossen, wonach Flüchtlinge bereits auf französischem Staatsgebiet an der Weiterreise in das Vereinigte Königreich gehindert werden. Damit will Großbritannien verhindern, dass Asylanträge auf britischem Staatsgebiet gestellt werden, denen in letzter Instanz stattzugeben wäre.

Aufnahme von 187 Syrern

Entsprechend vorsichtig äußerte sich der britische Premier, David Cameron, und vermied jede Kritik an den französischen Behörden: Zwar sei er „sehr besorgt“, aber es habe „keinen Sinn, sich gegenseitig Schuld zuzuweisen“. Innenministerin Theresa May betonte die „volle Übereinstimmung und Zusammenarbeit“ mit Frankreich. Kritiker meinen hingegen, Frankreich tue nichts, um die Zahl der Flüchtlinge in Coquelles zu verringern. Ein französischer Beamter hingegen meint gegenüber der „Presse“: „Egal, was wir tun: Sie wollen nicht hierbleiben. Sie wollen nach Großbritannien.“

Dies ist nahezu unmöglich. Vier Millionen Flüchtlinge hat der Bürgerkrieg aus Syrien vertrieben. Großbritannien, das sich gerne als humanitäre Großmacht präsentiert, hat der Aufnahme von 187 Syrern zugestimmt. Daneben sind mittlerweile auf illegalen Wegen rund 4200 Flüchtlinge aus dem Land nach Großbritannien gelangt – immer noch nur ein Bruchteil der Belastung, die Länder wie Deutschland, Österreich oder Ungarn auf sich genommen haben.

Ein Sprecher des britischen Außenministeriums weist jede Kritik zurück: „Unsere Politik ist es, die Flüchtlingsproblematik durch Hilfe vor Ort an seiner Wurzel zu bekämpfen.“ Und ein Übermaß an Mitgefühl erlebt man dieser Tage auch nicht im südenglischen Kent, wo die Flüchtlingskrise aufgrund tagelanger Anhaltung von Lkw zu massiven Behinderungen und ernsten wirtschaftlichen Einbußen führt. Eine Bürgerin beschwerte sich bei der „Times“ unter gewisser Verkennung der Proportionen: „Unser Leben ist ruiniert. Wir können nicht zur Arbeit, wir können nicht nach Hause, wir können unserem Geschäft nicht nachgehen, wir können unsere Kinder nicht hinauslassen. Es ist ein Scherz.“ Für die hunderttausenden Flüchtlinge allein in Europa aber ist es tödlicher Ernst.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.07.2015)

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