Am Nadelöhr des Ärmelkanals: Nach Dover – um jeden Preis

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In Calais versuchen jede Nacht Hunderte von Migranten, illegal nach Großbritannien zu gelangen. London fordert strengere Kontrollen. Doch auch die werden den Flüchtlingsstrom nicht stoppen.

Paris. Die französischen Polizisten, die zur Sicherung des Eurotunnel-Eingangs bei Calais im Einsatz stehen, sind müde, und ihre Nerven liegen blank. Auf ihnen lastet die Aufgabe zu verhindern, dass die Migranten als blinde Passagiere die Lastwagen, Züge oder Fährschiffe in Richtung Großbritannien besteigen. „Die Lage ist explosiv, genau das haben wir seit Langem befürchtet“, sagt Gilles Debove, Sprecher der Polizeigewerkschaft Unité-SCP. Der Auftrag, die Zugänge zum Tunnel unter dem Ärmelkanal zu sichern und das auf 28 Kilometern Länge mit hohen Zäunen umgebene und 650 Hektar große Areal am Eurotunnel zu überwachen, wird für seine Kollegen zu einer Sisyphusarbeit. Daran ändert auch eine weitere Verstärkung um 120 Polizisten nichts.

Die Migranten, die sie beim nächtlichen Versuch, auf einen Lastwagen aufzusteigen, erwischen und vorübergehend festnehmen, werden es nämlich schon am Tag danach wieder probieren – bis sie es schließlich schaffen hinüberzukommen. Die meisten dieser Menschen aus Syrien, dem Sudan, Somalia, Eritrea oder Afghanistan, die in Calais stranden, hätten grundsätzlich das Recht, Asyl zu beantragen.

Die weißen Felsen von Dover

Doch sie wollen nach Großbritannien, wo sie leichter Arbeit finden und untertauchen können. Jetzt wäre es nur noch ein kleiner Schritt bis ins Land ihrer Träume. Jenseits des Kanals in nur 34 Kilometern Entfernung können sie die weißen Felsen von Dover mit bloßem Auge erkennen. Kürzlich hat ein junger Syrer in seiner Verzweiflung versucht, mit einem Taucheranzug ausgerüstet über den Kanal zu schwimmen. Er hat das mit seinem Leben bezahlt, sein lebloser Körper wurde vor der holländischen Küste gefunden.

Wie er sind diese Migranten in Calais bereit, jeden Preis zu bezahlen und jede Gefahr auf sich zu nehmen. Je höher die Zäune, je zahlreicher das Bewachungspersonal und je schärfer die polizeilichen Kontrollen sind, desto größer die Risken, die sie eingehen. Vor allem in der Dunkelheit der Nacht. Immer wieder werden Migranten beim Überqueren der Autobahn angefahren und schwer verletzt, andere stürzen von Lastwagen. Oft stürmen darum mehr als tausend Migranten gleichzeitig die Zufahrten, um ihre Chancen zu vergrößern, vor allem wenn die Lastwagen vor dem Aufladen auf die Züge oder die Fährschiffe im Stau warten. Meistens aber müssen die Wagemutigsten auf die bereits fahrenden Züge aufspringen.

Seit Anfang Juni haben bereits zehn von ihnen dabei das Leben in Calais verloren. Der letzte von ihnen war ein 25- bis 30-jähriger Mann aus dem Sudan. Er ist in der Nacht auf Mittwoch von einem Lastwagen überfahren worden. Ebenfalls am Mittwoch hat ein junger Ägypter im Pariser Bahnhof Gare du Nord versucht, als blinder Passagier auf dem Dach des Eurostar nach London zu reisen. Er wurde noch vor der Abfahrt von einem Stromstoß der Leitung lebensgefährlich verletzt.

Blinde Passagiere im Lkw

Es gäbe weniger gefährliche Wege. Doch nur eine kleine Minderheit der Migranten hat genug Geld, um die Schlepperbanden zu bezahlen, die ihnen für derzeit angeblich rund 1500 Euro (aber ohne Erfolgsgarantie) einen Platz in einem Lastwagen vermitteln, dessen Fahrer dann beide Augen zudrückt, wenn die blinden Passagiere sich auf einem Parkplatz in seiner Ladung verstecken.
Bis ihnen auf die eine oder andere Weise die Fahrt ins vermeintliche englische Dorado gelingt, müssen diese Migranten in Calais überleben. Derzeit hausen die meisten in einem riesigen Hütten- und Zeltlager im Außenquartier Les Dunes – ein paar hundert Meter vom Terminal für die Shuttle-Züge entfernt.

Rund 3000 Menschen leben in diesem Camp, in dem inzwischen eine improvisierte Schule und ein Laden sowie auch Gebetsräume für verschiedene Religionen entstanden sind. Nichts hat sich an diesen unhaltbaren Zuständen seit Jahr und Tag geändert. Nur schieben sich nun alle gegenseitig die Schuld und Verantwortung zu. Frankreich erwartet Lösungen aus Großbritannien, umgekehrt verlangt London von Frankreich schärfere Aktionen gegen die illegalen Immigration.

Die Bürgermeisterin von Calais, Natacha Bouchart, fordert vom Staat 50 Millionen Euro als Wiedergutmachung für den Schaden am touristischen Image ihrer Stadt und für die Schwierigkeiten und Kosten, die wegen des ungelösten Flüchtlingsstaus am Ärmelkanal entstanden seien. Mehrere Millionen verlangt umgekehrt auch die Gesellschaft Eurotunnel, die ihrerseits von den Briten beschuldigt wird, sie sei in ihren Kontrollen zu nachlässig. Die britische Boulevardpresse fällt dagegen über Frankreich her. Die „Daily Mail“ fordert den Einsatz der Armee, weil die „Weichlinge“ – die Franzosen – bloß „Daumen drehen“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.08.2015)

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