Präsident Erdoğan strebt Neuwahlen im Herbst an, um seiner islamisch-konservativen AKP wieder zu einer Alleinregierung zu verhelfen. Gleichzeitig steigt der Druck auf die Kurdenpartei HDP.
Istanbul. Die Türkei steuert auf vorgezogene Neuwahlen im Herbst zu. Präsident Recep Tayyip Erdoğan sprach sich für die Bildung einer Minderheitsregierung seiner Partei AKP bis zu dem neuen Urnengang aus. Gleichzeitig verstärkten die Behörden den Druck auf die Kurdenpartei HDP: Kurz, nachdem eine Staatsanwaltschaft in Südostanatolien ein Ermittlungsverfahren gegen Parteichef Selahattin Demirtaş eingeleitet hatte, nahm eine andere Anklagebehörde jetzt Ermittlungen gegen Demirtaş' Kollegin an der Parteispitze, Figen Yüksekdag, auf. Unterdessen eskalierte die Gewalt im Land weiter.
Kritiker sagen Erdoğan seit Wochen nach, er wolle schnelle Neuwahlen im November, um der AKP wieder zu einer Alleinregierung zu verhelfen; bei der Wahl im Juni hat die Partei ihre Parlamentsmehrheit eingebüßt. Auch der Druck auf die HDP ist demnach ein Teil von Erdoğans Plan.
Während einer Asienreise verwies der Präsident nun vor mitreisenden Journalisten darauf, dass Koalitionsregierungen in der Türkei noch nie lange gehalten hätten. In den vergangenen Jahrzehnten sei selbst die stabilste Koalition nach dreieinhalb Jahren zerbrochen. Die Bildung einer Minderheitsregierung, die von anderen Parteien im Parlament geduldet werde, sei dagegen bis zu Neuwahlen durchaus möglich. Laut Presseberichten strebt die AKP eine entsprechende Absprache mit der rechtsnationalen Partei MHP an.
Große Koalition ohne Chance
Offiziell verhandelt die AKP mit der säkularen Oppositionspartei CHP über die Bildung einer großen Koalition. Doch Beobachter geben einem solchen Bündnis in Ankara kaum noch eine Chance. Nun, da Erdoğan so deutlich seinen Widerstand gegen eine Koalition signalisiert habe, werde die AKP dieser Richtungsentscheidung wohl folgen, kommentierte die Journalistin Asli Aydintasbas auf Twitter.
Die wahltaktischen Überlegungen spielen sich vor dem Hintergrund wachsender Spannungen im Land ab. Die Türkei hat vor einer Woche mit Luftangriffen auf die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) und besonders auf die PKK-Kurdenrebellen begonnen; Erdoğan erklärte außerdem den türkisch-kurdischen Friedensprozess für beendet. Dahinter steckt die Überzeugung, dass die Friedensgespräche mit den Kurden der AKP geschadet haben. Laut Meinungsforschern gab die Erdoğan-Partei bei der Juniwahl sowohl an die Kurdenpartei HDP als auch an die rechte MHP viele Stimmen ab.
Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu erklärte unterdessen, die Offensive gegen die PKK werde weitergehen, bis die Rebellen die Waffen strecken. Darauf gibt es aber keine Hinweise, im Gegenteil. In der Nacht zum Freitag griffen mutmaßliche PKK-Mitglieder eine Polizeiwache in der Provinz Adana an und töteten zwei Beamte; auch zwei PKK-Kämpfer starben. Am Freitag wurde ein Armeekonvoi angegriffen; drei Soldaten wurden verwundet. Teile einer Provinz im Kurdengebiet wurden zu militärischen Sperrzonen erklärt.
Die Anschläge der PKK, bei denen nach offiziellen Angaben in den letzten zwei Wochen mehr als ein Dutzend Soldaten und Polizisten getötet wurden, setzen die HDP unter wachsenden Druck, weil die Gewalt im Widerspruch zu den HDP-Friedensappellen steht. Die Regierung fordert die HDP, die über enge Kontakte zur PKK verfügt, seit Langem auf, sich eindeutig von der als Terrorgruppe eingestuften Organisation zu distanzieren. HDP-Chef Demirtaş erklärte, der einzige Ausweg aus der derzeitigen Lage bestehe in Verhandlungen. Die „Rückkehr zur Waffe“ sei keine Lösung, sagte er an die Rebellen gerichtet.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.08.2015)