Flüchtlingskinder: Kleine Dramen in der jordanischen Steinwüste

(c) Jürgen Streihammer
  • Drucken

Der Krieg liegt einige Kilometer hinter ihnen, nun sollen die kleinen Seelen heilen. Aber auch im Norden Jordaniens lauern Fallstricke: Kinderarbeit grassiert, Kinderehen sind gang und gäbe. Und so wird Bildung nach und nach zum Luxusgut. Ein Lokalaugenschein.

Die Kinder mit den größten Ängsten greifen zu den roten und schwarzen Buntstiften. Ausnahmslos. Kein Wort kommt ihnen über die Lippen, wenn sie auf ihren kleinen Stühlen sitzen und auf dem Papier ihre roten und schwarzen Linien ziehen. So erzählt es Caritas-Mitarbeiterin Noor in einem Spielzimmer im jordanischen Zarqa. Auf manchen Zeichnungen seien auch Pistolen aufgetaucht, sagt sie, während neben ihr der kleine Hamza Obstformen ausmalt: „Ihm geht's gut.“

Fast 630.000 Menschen aus Syrien sind nach UN-Angaben in dem ressourcenarmen Wüstenstaat gestrandet, der in etwa so groß wie Österreich ist. Mehr als die Hälfte stellen Kinder und Jugendliche, 230.000 davon im schulfähigen Alter, von denen aber 90.000 keine öffentliche Schule besuchen. In einigen Fällen auch deshalb, weil sie der Schrecken des Kriegs jenseits der Grenze nicht verlassen hat. „Anfangs zucken die Kinder zusammen, wenn die Schulglocke läutet, wenn Kindergelächter aus dem Hof dringt oder wenn sie ein Flugzeug aus der Ferne hören“, sagt Noor. Jedes laute, hohe Geräusch schrecke sie auf. Nicht nur die Kleinsten.

Die 15-jährige Rawan in Mafraq nahe der syrischen Grenze zum Beispiel. „Sie spielte auf dem Dach, als die Kampfjets vorüberzogen, sie sah, wie sie ihren Cousin erschossen haben“, erzählt ihre Betreuerin. Das Mädchen spreche nicht, fürchte die Nacht. „Wir versuchen, sie langsam an die Dunkelheit zu gewöhnen.“ Nach und nach fahren sie abends das Licht zurück. Anderen ist der Schrecken buchstäblich unter die Haut gefahren. Es gebe hier in Mafraq Kinder, die wegen des Stresses epileptische Anfälle bekommen, sagt der Arzt Ihsen Ibrahim. Im Nebenraum liegen Broschüren in verschiedenen Farben auf: Bettnässen, steht auf der blauen, Angst auf der roten.

Manchen Kindern hilft ein Puppenfilm, der von dem Schicksal zweier syrischer Geschwister erzählt und der speziell gedreht wurde, um die Ängste der Kleinsten zu lösen. „Viele weinen dann“, sagt Sozialarbeiterin Noor. Oder sie begännen zu erzählen. „Manchmal geht es ganz schnell, nach ein paar Stunden tauen sie auf.“ Nun hat das Leben diesen Kindern auch jenseits der syrischen Schlachtfelder viele Fallstricke in den Weg gelegt. Sozialarbeiterin Maria erzählt von traumatisierten Vätern, die ihr unter Tränen beichten, ihre Kinder zu schlagen. „Sie sagen, sie wissen nicht, warum sie es es tun. Sie müssen einfach.“

„Sie nennen mich nur den Syrer“

Eine informelle Vorbereitungsklasse von Caritas Jordanien in Zarqa: Die Tafel ist mit arabischen Ziffern vollgeschmiert, darüber hängt ein Bild Königs Abdullahs II. aus jüngeren Jahren. Ob ihnen der Unterricht gefällt? „Yes“, schreien die Kinder und zeigen die Milchzähne. Im Lauf der Jahre werden sich die Reihen lichten. Einige der Mädchen, die sich an diesem Vormittag über einen Zettel mit Rechenaufgaben beugen, werden bald nur noch Ehefrauen sein, weil die Familie in ihrer Not auf die finanzielle Unterstützung der Familie des Bräutigams schielt. Die Zahl der Kinderehen nimmt dramatisch zu. Andere werden bald in Kinderarbeit gezwungen werden. Die kleinen syrischen Arbeitskräfte sind heiß begehrt, weil sie billiger sind als ihre Eltern und seltener von der Polizei erwischt werden. Arbeitserlaubnis gibt es für die meisten Syrer nicht. In einer Unicef-Studie gab die Hälfte der befragten Familien an, ihre Kinder seien wichtige oder die einzigen Geldverdiener im Haushalt. Die siebenfache Mutter Fatmeh schämt sich, aber: „Abdullah wäscht Autos, Ahmed arbeitet in einem kleinen Geschäft“, sagt sie über die beiden zehn und zwölf Jahre alten Söhne.

Im fünften Kriegsjahr wird alles schlimmer. Das Familiensilber ist verscherbelt, die Hilfe nimmt ab. Heute halbiert das World Food Program seine Unterstützung für die Ärmsten außerhalb der Camps auf 18 Euro im Monat. Wie die Spendengelder reichen auch die formellen Schulplätze nicht – obwohl teilweise im Schichtbetrieb unterrichtet wird. An vielen Schulen lernen vormittags die Jordanier, nachmittags die Syrer.

Und so schürt die Last der Flüchtlingswelle Spannungen. Nicht nur bei den Erwachsenen. „Ich heiße Salah“, sagt der 14-Jährige im grünen T-Shirt. „Aber in meinem Viertel nennen sie mich nur den Syrer.“ An der Schule hätten sie ihn wegen seiner Herkunft gemobbt. Er hat sie hingeschmissen.

Compliance-Hinweis

Teile der Reise wurden von Sponsoren der Caritas finanziert. Die Caritas selbst hat keine Reisekosten für die JournalistInnen übernommen.

Caritas-Spendenkonto

PSK
BAN: AT92 6000 0000 0770 0004
BIC: OPSKATWW
Kennwort: Hungerhilfe
www.caritas.at/hunger

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.08.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.