Indien-Bangladesch: Das Ende des jahrelangen Elends im Niemandsland

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Die beiden Länder beenden ihren Grenzstreit: bisher staatenlose Einwohner der Enklaven erhalten Nationalität.

Als bei der hochschwangeren Asma Bibi im Jahr 2010 plötzlich die Wehen eintraten, eilte ihr Mann mit ihr ins nächste Spital in der indischen Kleinstadt Dinhata. Doch das Krankenhaus nahm sie nicht auf. „Die Ärzte wollten mich nicht einmal untersuchen. Sie sagten, ich sei keine Inderin und hätte keinen Anspruch auf eine Behandlung.“

Asma Bibi und ihr Mann stammen aus der damals eigentlich zu Bangladesch gehörenden Moshaldanga-Enklave, de facto ein kleines Dorf mitten in Indien. Die Einwohner Moshaldangas hatten bisher weder Personalpapiere noch Anspruch auf Sozialleistungen: Sie lebten als Staatenlose im Niemandsland, das sie offiziell gar nicht verlassen durften.

Die Eheleute gaben aber nicht nach – im Gegensatz zu vielen anderen vor ihnen. Sie pochten auf eine Behandlung, brüllten die Ärzte an, blockierten den Eingang des Spitals. Schließlich kamen ihnen tausende Enklave-Einwohner zu Hilfe, die in der Zwischenzeit von einer NGO mobilisiert worden waren. Die junge Frau wurde schließlich aufgenommen. Und ihr Sohn wurde als erstes offizielles „Enklaven-Baby“ überhaupt in einem indischen Spital geboren. Die Eltern nannten ihn Jihad – als Erinnerung an den Kampf, der seiner Geburt vorangegangen war.

Territorialer Fleckerlteppich

Jihad ist heute fünf, und er wird wohl nicht das schwere Schicksal seiner Eltern und Großeltern teilen müssen. Der Bub wird eine Schule besuchen, eigene Identitätspapiere besitzen und auch zum Arzt gehen können. Er ist seit dem Wochenende indischer Staatsbürger, genauso wie seine Eltern jetzt auch: Indien und Bangladesch haben nach Jahrzehnten den Konflikt um ihre komplizierte Grenze beigelegt – ein geschlängelte Linie, die unter anderem aus Dutzenden Miniterritorien besteht, die sich auf dem jeweils anderen Staatsgebiet befinden. Der Status dieser 162 Enklaven, Unter-Enklaven und Unter-Unter-Enklaven (manche nicht größer als ein Reisfeld) wurde jetzt endgültig geklärt: Die Enklaven werden in den Staat eingegliedert, in dessen Territorium sie liegen.

Damit endet für die 52.000 Einwohner dieser Miniterritorien ein Albtraum: Das Leben in der Enklave sei „wie im Dschungel“ gewesen, beschreibt ein Bewohner: Die kleinen Dörfer in dieser ohnehin bitterarmen Region hatten keine Straßen, Schulen oder Spitäler. Nur mit gefälschten Papieren konnten Kinder Schulen besuchen oder Jugendliche in Indien studieren. Und nur mit falschen Identitäten war ein Arztbesuch oder ein Job außerhalb der Enklave möglich.

„Wer ins Spital musste und keine gefälschten Papiere hatte, musste sich an indische Familien anschließen und sie oft teuer bezahlen, damit sie einen als Verwandten ausgaben“, schildert Asma Bibi. Deshalb sind auch nahezu alle Namen von Eltern der Enklaven-Babys, die in indischen Spitälern geboren wurden, gefälscht – auf den Geburtsurkunden der beiden älteren Geschwister Jihads stehen nicht die richtigen Eltern.

Schicksalhaftes Schachspiel

Die Geschichte der Enklaven geht weit zurück: Eine Legende sagt, dass zwei verfeindete Herrscher durch ein Schachspiel so das umkämpfte Territorium aufteilten. Tatsächlich dürften die Enklaven die Folge verschiedener Friedensverträge zwischen den rivalisierenden Mogul-Herrschern und dem lokalen Fürstentum von Cooch Behar gewesen sein. Jedenfalls überlebten sie die Jahrhunderte – die britische Kolonialzeit ebenso wie die indische Unabhängigkeit 1947.

Das Elend für die Einwohner begann im Zuge der blutigen Teilung Indiens – erst durch die Gründung Pakistans (1947) und dann Bangladeschs (1971). Die Enklaven wurden zum Niemandsland: Sie bestanden in den jeweiligen neu gegründeten Ländern weiter, ihr Status blieb aber ungeklärt – und wurde in dieser extrem angespannten Phase immer wieder zum Anlass für Friktionen.

Die bereits prekäre Lage der staatenlosen Enklavenbewohner wurde durch die immer wieder aufflammende Gewalt zwischen Indien und Bangladesch an der Grenze verschärft – hunderte Menschen sollen bei Schießereien in den letzten Jahren getötet worden sein. Indien wirft Bangladesch immer wieder vor, Islamisten und Separatisten zu dulden und über die Grenze zu lassen, die dann Anschläge in Indien verüben würden.

Freie Wahl über Nationalität

Die „Enklavenmenschen“ hoffen jedenfalls, dass das Leid der Vergangenheit angehört. Immerhin erhalten sie jetzt erstmals eine eigene, nationale Identität. Denn die Einwohner konnten selbst entscheiden, in welchem Land sie leben möchten. Die rund 14.000 Menschen der 51 bengalischen Enklaven in Indien optierten alle für die indische Staatsbürgerschaft. Etwa 1000 Einwohner der 111 indischen Enklaven hingegen beschlossen, in das reichere Indien zu ziehen und ihre Grundstücke zu verkaufen. Sie werden in Westbengalen angesiedelt.

Die Familie des kleinen Jihad feierte das gesamte Wochenende, in ihrem Dorf weht nun die indische Fahne. „Unsere Kinder werden als freie Menschen aufwachsen“, freut sich die Mutter.

AUF EINEN BLICK

Seit mehreren Jahrzehnten belastete ein Grenzstreit das Verhältnis zwischen Indien und Bangladesch. Nun haben beide Länder den Konflikt beigelegt. Sie tauschten die jeweiligen Enklaven (insgesamt 162) und stellten die 52.000 Einwohner vor die Wahl, welcher Nation sie angehören wollen. Die Einwohner der Enklaven galten bisher als staatenlos, sie hatten keine Papiere und keinen Anspruch auf Sozialleistungen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.08.2015)

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