China: Menschenjagd im Internet

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Sie graben nach jeder kleinsten Information. Internetnutzer haben hunderte korrupte Kader und andere Kriminelle überführt. Die Grenze zu Cybermobbing ist allerdings fließend.

Peking. Jiang Qi war zwar empört. Aber so weit wollte sie dann doch nicht gehen. Die 21-Jährige hatte Ende Mai in einer kleinen Shanghaier Gasse, nicht weit von der Wohnung ihrer Eltern, beobachtet, wie ein älterer Herr seine drei Welpen mit einem Stock schlug. „Seid still, ihr verdammten Kläffer“, brüllte er und prügelte immer wieder auf die winselnden Hunde ein, berichtet Jiang Qi.

Allerdings traute sie sich nicht, den wütenden Mann anzureden. Sie nahm die Szene stattdessen mit ihrem Smartphone auf und schickte die Aufnahme über WeChat, das chinesische Pendant von WhatsApp, an ihre Freunde. „Hundeschänder in der Nachbarschaft“, betitelte sie das Video.

Krankenhausreif geschlagen

Erst, als sie am Abend ihren Rechner aufklappte, sah sie, dass sich das Video unter #Hundeschänder auf sämtlichen chinesischen sozialen Netzwerken zehntausendfach verbreitet hatte. Nun bekam sie Angst, erinnert sie sich. Denn unter ihrem Video war inzwischen auch eine Nahaufnahme von dem älteren Mann zu sehen. Und seinen Namen hatten Nutzer auch identifiziert, inklusive Geburtsdatum und Wohnadresse. „Der sollte auch einmal so verprügelt werden“, schrieb einer, „Tierquäler, verrecke“, ein anderer. Am nächsten Morgen las sie in der Zeitung, dass Unbekannte in der besagten Straße einen 61-jährigen Hundeverkäufer mit Tritten und Stockhieben krankenhausreif geschlagen hatten. „Das habe ich nicht gewollt“, sagt Jiang Qi heute.

Ein in China typischer Fall von renrou sousuo yinqing – übersetzt heißt das: Menschenfleisch-Suchmaschine. Verbreitung fand dieser Begriff vor etwa fünf Jahren. Internetnutzern fiel auf, dass lokale Parteikader und Beamte Rolex-Uhren im Wert von mehreren zehntausend Euro trugen und Luxuszigaretten rauchten, obwohl sie offiziell gerade einmal einige hundert Euro im Monat verdienten. Wie ein Schwarm gingen immer mehr Aktivisten den Verdächtigungen nach. Sie werteten Fotos aus, gruben nach den letzten Informationen und veröffentlichen sie im Internet. Und siehe da: Viele dieser Kader hatten über Jahre hinweg Bestechungsgelder angenommen und auf diese Weise Millionen angehäuft. Im chinesischen Netz begann eine regelrechte Jagd auf korrupte Beamte und Parteisekretäre.

Kein Vertrauen in die Medien

In einem Land wie China ohne Pressefreiheit wurde dieses Vorgehen auch von westlichen Beobachtern als Bürgerkontrolle und „wirksames Instrument gegen Ungerechtigkeiten und Machtmissbrauch“ gefeiert. Im Netz sei eine basisdemokratische Struktur entstanden, die in China bis dahin nicht existiert habe, schrieb 2010 die „New York Times.“ Unfälle und Katastrophen würden sofort bekannt, und Beamte könnten ihre Fehlhandlungen nicht mehr einfach vertuschen.

Doch was zunächst wie ein Segen wirkte, weist inzwischen Züge von Lynchjustiz auf. Cybermobbing sei auch in westlichen Ländern ein Problem, sagt der in China prominente Blogger und Journalist Michael Anti. Doch in China würde die öffentliche Verunglimpfung von Personen im Netz auf besonders fruchtbaren Boden fallen. Den staatlich kontrollierten Medien werde nicht getraut. Und in einem Land, das keine fairen Gerichtsverfahren garantiert, versuchten die Internetjäger selbst für Gerechtigkeit zu sorgen, schreibt Anti in seinem jüngsten Buch über Netzkultur in China. Dies führe eben auch zu jeder Menge Fehleinschätzungen.

Dem Aufspüren korrupter Kader hat die kommunistische Führung inzwischen einen Riegel vorgeschoben. Erst jüngst hat sie ein Gesetz verabschiedet, das es den Behörden ermöglicht, gegen Internetaktivisten drakonische Strafen zu verhängen, sollten sie Gerüchte über sie verbreiten. Der normale Bürger kann sich aber nicht wehren, wenn er erst einmal ins Visier eines Cybermobs geraten ist.

Als Volksschädling beschimpft

Eine südchinesische Zeitung berichtete vor einem Jahr von dem Fall der 18-jährigen Xu Anqing. Sie soll mit einem Hund an der Leine im Dezember 2013 einen Modeladen bestohlen haben. Das behauptete zumindest eine Ladenbesitzerin, die Aufnahmen von Überwachungskameras der 18-Jährigen ins Netz stellte. Nur Stunden später war das Mädchen im Netz nicht nur enttarnt. Einer lud das Bild von ihrem Personalausweis hoch. Ein weiterer veröffentliche ihre Handynummer, ihre Internetadresse und sogar den Namen ihrer Schule. Tausendfach wurde sie als „Volksschädling“ beschimpft, man wünschte ihr den Tod.

Zu einem Gerichtsurteil ist es nicht gekommen. Sie hatte sich das Leben genommen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.08.2015)

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