Egon Bahr: Der Vordenker der Wiedervereinigung ist tot

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Der Architekt der deutschen Ostpolitik ist tot. Seinem Gedanken der Annäherung ist der SPD-Politiker Egon Bahr immer treu geblieben – zuletzt auch im Streit um die Ukraine.

Berlin/Wien. Selten lässt sich das Lebenswerk eines bedeutenden Mannes auf so eine prägnante Formel bringen. Egon Bahr hat mit einem Gedanken die Geschichte ganz Europas verändert: „Wandel durch Annäherung“ – unter dieser Überschrift bereitete der langjährige Mitarbeiter und enge Vertraute des legendären deutschen Bundeskanzlers Willy Brandt den Weg für die neue Ostpolitik und damit für die Entspannung zwischen den beiden deutschen Staaten. Diese Politik wurde zu einer der Grundlagen der deutschen Einheit.

Selten auch lässt sich der Werdegang eines Politikers nur als Duo erzählen. Doch man kann das Wirken Bahrs nicht erklären, ohne Brandt mitzudenken – und umgekehrt. Er selbst habe sich lang mit Konzeptionen beschäftigt, hat Bahr die Beziehung zwischen den beiden Weggefährten beschrieben. Dafür habe Brandt keine Zeit gehabt, aber: „Er hatte mehr Intuition im Hintern als andere im Kopf.“

Die gemeinsame Geschichte der beiden Männer beginnt 1960 in Berlin. Der Zweite Weltkrieg hat Bahrs Jugendjahre geprägt. 1922 in Treffurt, Thüringen, geboren, macht er nach dem Abitur eine Ausbildung zum Industriekaufmann und geht 1942 als Soldat zur Wehrmacht. Der Kriegsdienst dauert für ihn zwei Jahre, dann wird er entlassen, weil er seine jüdische Großmutter verheimlicht hat. Nach dem Krieg wird Bahr Journalist und Chefkommentator bei Rias, dem Rundfunk im amerikanischen Sektor. In dieser Funktion lernt er Brandt kennen.

Gestalten statt beschreiben

Brandt ist zu diesem Zeitpunkt Regierender Bürgermeister Berlins. Bahr zögert keine Sekunde lang, als Brandt ihm anbietet, der Leiter seines Presseamts zu werden. Er habe Politik nicht länger beschreiben wollen, sondern gestalten, hat Bahr die Entscheidung begründet.

Schon drei Jahre später entwickelt Bahr, inspiriert von der Rede des US-Präsidenten John F. Kennedy an der Freien Universität Berlin, sein berühmtes Motto „Wandel durch Annäherung“. Das ist das Motiv, dem er treu bleibt, als er Brandt in das Außenministerium (als Chef des Planungsstabs) und dann ins Kanzleramt (als Staatssekretär) begleitet. Er knüpft Kontakte in den Osten und verhandelt schließlich für die Brandt-Regierung mit der Sowjetunion, der DDR und Polen – mit Erfolg. Der Moskauer Vertrag mit der UdSSR verpflichtete beide Länder zu Frieden und Entspannung; der Warschauer Vertrag mit Polen legte die Unverletzlichkeit der Grenzen fest; das Transitabkommen mit der DDR erleichterte den Reiseverkehr zwischen den beiden deutschen Staaten; und der Grundlagenvertrag regelte die gegenseitigen, „gutnachbarlichen“ Beziehungen zwischen Bonn und Ost-Berlin.

Die Annäherungspolitik des Duos war alles andere als unumstritten – auch innerhalb der SPD. Vor allem konservative Kritiker warfen Bahr eine zu große Nähe zur Sowjetunion vor. Beim Rücktritt Brandts 1974 wegen der Guillaume-Affäre – ein enger Mitarbeiter war als DDR-Spion aufgeflogen – brach Bahr öffentlich in Tränen aus. Auch weil der damalige Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Herbert Wehner, dem scheidenden Kanzler noch „Willy, du weißt, wir alle lieben dich“ zurief – für Bahr der „Gipfel von Heuchelei“ eines Intriganten, wie er später sagte.

Den Frieden erhalten

Nach Brandts Rücktritt wurde Bahr unter Helmut Schmidt für zwei Jahre Entwicklungsminister und blieb bis 1990 Abgeordneter im Bundestag. Seine Motivation, Politik zu betreiben, sei aber immer gewesen, Frieden zu schaffen und zu erhalten, hat er einmal in einem Interview gesagt. Seiner Idee der gegenseitigen Annäherung blieb er bis zum Ende treu: Noch im Juli plädierte er zusammen mit Michail Gorbatschow bei einem Besuch in Moskau dafür, mit Russland zusammenzuarbeiten – ohne dauernd Demokratieprobleme anzuprangern.

In der Nacht auf Donnerstag ist Egon Bahr im Alter von 93 Jahren an Herzversagen gestorben.

ZUR PERSON

Egon Bahr wurde am 18. März 1922 geboren und war nach dem Krieg zunächst Journalist. Dann machte ihn der damalige Bürgermeister Berlins, Willy Brandt, zu seinem Sprecher. Später war er unter anderem Staatssekretär im Kanzleramt und Chefverhandler der Ost-Verträge. 1972 wurde er in Brandts Kabinett Minister für besondere Aufgaben. 1976 übernahm er das Amt des Bundesgeschäftsführers der SPD.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.08.2015)

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