Kurz: "Flüchtlinge durchwinken kann keine Lösung sein"

Sebastian Kurz traf in Mazedonien auf seinen Amtskollegen Nikola Popovski.
Sebastian Kurz traf in Mazedonien auf seinen Amtskollegen Nikola Popovski.(c) APA/EPA/NAKE BATEV
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Die Mazedonier riegeln die Grenze nicht mehr ab. Das haben sie nur zwei Tage durchgehalten. Österreichs Außenminister Kurz auf Besuch in der Grenzregion.

Schuhe, überall liegen noch einzelne Schuhe verstreut. Neben der Eisenbahnstrecke, unter dem Stacheldraht, im Gestrüpp, auf dem Feldweg. Spuren einer Massenpanik.
Vor zwei Tagen durchbrachen hier Tausende Flüchtlinge die griechisch-mazedonische Grenze. Jetzt stehen wieder 200 bis 300 Menschen dicht gedrängt in der prallen Sonne zwischen den Gleisen und warten. In der ersten Reihe steht ein Vater, vielleicht 30 Jahre alt, und hält seine Hand schützend um seine in ein Kopftuch gehüllte Frau und seine kleine Tochter. Die Angst ist in ihr Gesicht geschrieben. Ein paar Meter noch, und sie sind in Mazedonien. Vor ihnen stehen ein paar mazedonische Grenzpolizisten. Eine Frau schreit laut auf Arabisch auf, ein griechischer Helfer beruhigt sie. Es wird nicht mehr lange dauern. Die Mazedonier riegeln die Grenze nicht mehr ab. Das haben sie nur zwei Tage durchgehalten – der Andrang war zu groß.

„Wir versuchen, den Flüchtlingsstrom zu organisieren“, sagt Alexandra, eine deutsche Helferin des UN-Flüchtlingshilfswerks. Vierhundert Meter hinter der Grenze steht auf einem Brachland zwischen Kukuruzfeldern und Weinreben ein olivgrünes Zelt. Darin registrieren sich die Flüchtlinge. Das heißt, sie erhalten einen Passierschein, auf dem steht, dass sie das Land innerhalb von 72 Stunden verlassen oder um Asyl ansuchen müssen. Heuer haben nicht einmal 50 Personen um Asyl in Mazedonien angesucht, sie ziehen alle weiter. Nach Serbien und von dort nach Ungarn, weiter nach Österreich und Deutschland, manche bis Schweden.

Allein bis Montagmittag haben sich wieder mehr als 1200 Schutzbedürftige in dem olivgrünen Zelt gemeldet. Die mazedonischen Behörden sind zufrieden mit dem Provisorium, auch das UNHCR, es ist nicht mehr ganz so chaotisch. Wenigstens drängen nicht mehr alle Flüchtlinge zum Bahnhof in Gevgelija. Der Bürgermeister ist erleichtert. „Nema kapazitet, keine Kapazität“, sagt ein mazedonischer Polizist immer wieder und schüttelt den Kopf. Einmal am Tag fährt nun ein Zug die paar hundert Meter zurück zur Grenze und lässt die Menschen dort einsteigen. Sieben Euro kostet die Fahrt zur serbischen Grenze. Manche leisten sich auch zu fünft Taxis, für 20 Euro pro Person. Auch Dutzende Busse parken reihenweise entlang der Hauptstraße. Der Flüchtlingstransport ist zum Geschäft geworden.

Drei Jahre in der Fremde

Imad al-Shamani hat kaum mehr Geld. 2000 Euro hat der Syrer (38) bisher für seine Flucht ausgegeben. Vor drei Jahren setzte er sich mit seiner Familie aus einem Städtchen nahe Damaskus in den Libanon ab, verdingte sich als Bauarbeiter in Ba'albek in Bekaa-Tal. Auch dort sah er keine Perspektive. Seine 18 Monate alte Tochter brauche dringend medizinische Hilfe, um ihre rechtsseitigen Lähmungserscheinungen zu behandeln. Der Ölingenieur hatte vor, einen Job am Golf zu finden. Doch dort nahm ihn kein Staat auf. Am 10. August setzte er sich mit seinem 26-jährigen Cousin Khaled ins Flugzeug Richtung Türkei.

Von der Hafenstadt Bodrum setzte er in einem Gummiboot auf die griechische Insel Pserimos über. 45 Menschen saßen dicht gedrängt, darunter sieben Kinder. Der Motor fiel aus, sie mussten rudern. Von Griechenland ging es über Thessaloniki weiter nach Mazedonien. Imad will in die Niederlande. Er hat gehört, dass man dort rasch eine Aufenthaltsgenehmigung erhält. Dann möchte er seine Familie nachholen.

Sorge bereitet ihm die Reise durch Ungarn. „Vielleicht werden wir einen Schlepper brauchen“, sagt er. Der Syrer hat Angst, dass ihm die Ungarn einen Stempel in den Pass drücken. „Dann kann ich nirgends mehr um Asyl ansuchen.“ Dass die Griechen seine Daten aufgenommen haben, stört ihn nicht. Die Lage ist dort so schlecht, dass die anderen EU-Staaten keine Flüchtlinge zurückschicken.

„In Syrien wird nie Frieden sein“

Begleitet von einem Tross internationaler Journalisten mischt sich Österreichs Außenminister Kurz unter die Flüchtlinge beim Registrierungszentrum, ein paar hundert Meter von der Grenze entfernt. Unter einer Zeltplane des UNHCR und bunten Strandschirmen warten etwa 80 Flüchtlinge auf die Weiterreise. Kinder zeichnen im Schatten, spielen mit großen bunten Legosteinen, die ihnen Helfer gebracht haben. In dieser Gruppe halten sich auffallend viele Afghanen und Pakistanis auf. Die meisten aber, die es hierher verschlägt, sind Syrer, vielleicht 70 Prozent, sagt Alexandra, die UNHCR-Helferin.

„Warum unternimmt Europa nichts gegen den Verbrecher Assad in Syrien“, ruft Imad dem österreichischen Außenminister zu. Auch Brzan Ahmed Osman, ein 21-jähriger Syrer aus Qamishli, will Kontakt zu Kurz aufnehmen. Er ist verzweifelt, seine Freunde stehen schon seit drei Stunden hinten an der Grenze zwischen den Gleisen. Die Polizei hat sie noch nicht durchgelassen. „Könnt Ihr ihnen helfen?“, fragt er. „Ich erzähle euch Journalisten dann auch meine Geschichte.“ Doch Kurz muss weiter, zurück nach Skopje, er trifft dort die Außenminister Mazedoniens, Bulgariens und Albaniens. „Nach Syrien werde ich nie wieder zurückkehren. Dort wird nie Frieden sein“, ruft Brzan nur. „Ich will nach Deutschland, dort Wirtschaft studieren.“

„Dublin funktioniert nicht mehr“

Auch in Skopje spricht Kurz über die Flüchtlingskrise, er wird es auch am Donnerstag beim Balkan-Gipfel in Wien tun. Es gibt derzeit nur ein Thema, und Kurz drängt darauf, endlich etwas Ordnung in das europäische Chaos zu bringen. „Das Dublin-System funktioniert nicht nur schlecht, es funktioniert gar nicht mehr“, sagt er schon auf dem Flug nach Skopje. Die Regel, wonach ein Migrant in jenem EU-Mitgliedsland einen Asylantrag stellen muss, gilt faktisch nicht mehr. Griechen, Italiener oder auch Ungarn – sie alle schicken die Flüchtlinge einfach weiter. Auch die österreichische Polizei sieht weg, wenn Flüchtlinge auf der Durchreise nach Deutschland sind. Kann man da von einem Nicht-EU-Staat wie Mazedonien mehr verlangen?

Kurz fordert ein Post-Dublin-System, eine neue Strategie für den Umgang mit Flüchtlingen. Das solle umgehend bei einem EU-Gipfel besprochen werden. Ein paar Bausteine hat der Außenminister schon zusammengetragen, in einem Fünfpunkteplan, der als Diskussionsbasis dienen soll. Eine Zauberformel ist nicht dabei. Es sind bekannte Ideen. Nur umgesetzt hat sie keiner: Verschärfter Kampf gegen die IS-Extremisten, die Schaffung von Schutzzonen, in denen Asylanträge gestellt werden können; ein fairer Verteilungsschlüssel für alle 28 EU-Länder, effektiver Schutz der EU-Außengrenze, entschlossene Maßnahmen gegen Schlepper. Dies und Ähnliches hat bereits die EU-Kommission vorgeschlagen.

Warum ist nichts passiert? Besonders sauer scheint Kurz auf die Griechen zu sein. Der mazedonische Innenminister beklage sich zurecht über Griechenland. Flüchtlinge einfach weiterzuschicken, gefährde die europäische Idee, sagt Kurz „Die Westbalkan-Staaten sind überrannt, überfordert und allein gelassen. Wir müssen ihnen helfen.“ Mazedonien hat um Unterstützung der europäischen Grenzschutzagentur Frontex angesucht. Kurz will Europas Grenzen dicht machen, Flüchtlinge möglichst in der Region halten und eine gerechte Quote, die berücksichtigt, dass Länder wie Österreich oder Deutschland im Vergleich schon weit aus mehr Asylwerber aufgenommen haben als andere Staaten.

Exodus nach Europa

Die Zeit drängt. Der Flüchtlingsstrom wird nicht verebben. In Lagern in der Türkei, Jordanien und im Libanon warten noch Hunderttausende andere Syrer, die keine Perspektive mehr sehen. Dazu kommen unzählige Afghanen, Pakistanis, Eritreer. Und heuer, so glauben Experten, wird sich der Exodus nach Europa auch im Winter fortsetzen.
„Ich erwarte von Mazedonien, Serbien und vor allem von Griechenland ordentliche Grenzsicherheit. Einfaches Durchwinken kann keine Lösung sein“, sagt Kurz bei der gemeinsamen Pressekonferenz mit Außenminister Nikola Poposki, und bietet österreichische Hilfe an: bei der Grenzsicherheit, aber auch „humanitär“. Der mazedonische Gastgeber gibt ein Lippenbekenntnis ab: „Mazedonien kann nicht dulden, dass seine Grenzen unkontrolliert überschritten werden.“ In einem sind sich die beiden Außenminister einig: „Dieses Problem kann kein europäischer Staat alleine lösen.“

Imad al-Shamani, Brzan Ahmed Osman und die anderen Flüchtlinge bekommen von den Politikererklärungen nichts mit. Sie wollen vor allem eines: Möglichst rasch in die EU, um ein neues Leben zu beginnen. Der Stacheldrahtzaun an der griechisch-mazedonischen Grenze bei Gevgelija war übrigens nie länger als 200 Meter.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.08.2015)

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