Massenprotest: Die Libanesen haben die Nase voll

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Die Volksbewegung „Ihr stinkt“ stellt der korrupten politischen Elite ein Ultimatum. Sie fordert Neuwahlen und ein Ende der politischen Lähmung.

Kairo/Beirut. „Eure Zeit ist abgelaufen“, skandierten die Demonstranten. „Vorrang für die Bürger“ und „Nieder mit der Herrschaft der Korrupten“ stand auf den Transparenten der größten Massendemonstrationen im Libanon seit dem Mord an Ex-Premier Rafik Hariri vor zehn Jahren. Wochenlang türmte sich stinkender Müll auf Beiruts Straßen, seit im Juli die zentrale Deponie geschlossen werden musste. Jetzt haben die Libanesen die Nase voll von dem Gestank, dem Dauerversagen ihrer politischen Klasse und deren Selbstbereicherung. Die Proteste gegen die Verwahrlosung der Wohnviertel schlagen immer stärker um in eine generelle Konfrontation zwischen dem Volk und seinen ungeliebten Volksvertretern.

Bis Dienstagabend setzten die Rebellen, die ihre Bewegung „Ihr stinkt“ nennen, den Mächtigen ein Ultimatum. Bis dahin soll das 128-köpfige Parlament, das schon zwei Jahre über die legale Legislaturperiode hinaus amtiert, offiziell den Weg für Neuwahlen freimachen. Die Aktivisten verlangen den Rücktritt von Umweltminister Mohammad Mashnuq und eine funktionierende Müllabfuhr. Andernfalls drohen sie mit Eskalation.

Die Krise des Libanon, die sich auf den Plätzen von Beirut entlädt, hat viele Ursachen. Seit Jahren lähmt eine tiefe Polarisierung das innenpolitische Leben. Die wichtigsten Staatsämter werden laut Verfassung zwischen Christen, Sunniten und Schiiten aufgeteilt, die Parlamentssitze nach konfessionellen Quoten vergeben. Einem sunnitisch-christlichen Lager, von Saudiarabien und dem Westen unterstützt, steht das schiitische Lager mit Hisbollah und einer proschiitischen Christenfraktion, die den Iran an ihrer Seite weiß, gegenüber.

Libanons Regierung mit dem sunnitischen Premier Tammam Salam an der Spitze ist funktionsunfähig. Seit Mai 2014 ist das Parlament bei der Wahl eines neuen Präsidenten blockiert. Das Land mit seinen vier Millionen Bürgern taumelt in der krisengeschüttelten Nahostregion führungslos und überfordert vor sich hin.

Last des syrischen Bürgerkriegs

Denn der syrische Bürgerkrieg lastet schwer auf dem sozialen Gefüge des Zedernstaates. Libanon ächzt unter mehr als 1,5 Millionen syrischer Flüchtlinge, die inzwischen ein Viertel der Bevölkerung ausmachen. Im Land leben mehr schulpflichtige Kinder aus Syrien als einheimische Kinder. Die Mietpreise sind in die Höhe geschossen. Zehntausende der Gestrandeten hausen in ärmlichen Zelten, Ställen oder Rohbauten. Überall verdingen sich Syrer als Taglöhner für minimales Geld, sie gelten als unliebsame Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt. Strom und Wasser fließen meist nur stundenweise, weil die marode Infrastruktur völlig überlastet ist.

Und so geht das Aufbegehren der Libanesen über die eingeschliffenen politischen Lagergrenzen des Landes hinaus. „Es ist das erste Mal, dass sich die Zivilgesellschaft mobilisiert für allgemeine soziale Forderungen und nicht für Wünsche spezieller politischer Anführer“, kommentierte die angesehene Zeitung „An-Nahar“. Einen neuen Bürgerkrieg wie zwischen 1975 und 1990 möchte keiner der jungen Aktivisten lostreten, niemand will das System zum Einsturz bringen. „Wir wollen keine Revolution, wir wollen Reformen“, erklärte eine junge Demonstrantin. „Keine Partei und kein Parteiführer wird von uns geschont“, deklamierte „Ihr stinkt“-Mitbegründer Lucien Bourjeily. „Wir sind gegen die gesamte politische Klasse.“

Den Politikern hat es indes die Sprache verschlagen, keiner reagierte bisher auf den Groll im Volk. Dagegen goss der bekannte libanesische Publizist Michael Young am Wochenende kräftig Wasser auf die Mühlen der zivilen Überparteilichkeit. „Keine politische Partei im Libanon wird ihr Verhalten ändern, da sie sonst ihre Macht verlieren könnte. Die Mehrheit der Libanesen steht fest hinter ihren religiös-politischen Führern.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.09.2015)

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