EU-Austritt: Cameron entgleitet das Referendum

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Die Regierung in London gibt dem Druck der EU-Gegner nach und formuliert die Volksabstimmungsfrage neu. Die Flüchtlingskrise droht zum Hauptthema zu werden.

London. Die lange Sommerpause des britischen Unterhauses endet erst am Montag. Doch bereits am ersten Sitzungstag werden die Abgeordneten über eine Frage abstimmen, die Großbritannien wie keine andere in den nächsten Monaten dominieren wird: Die Regierung wird einen ganzen Katalog von nicht weniger als 22 Seiten an Änderungsanträgen zu der kommenden EU-Volksabstimmung vorlegen. „Die Regierung will für Bedingungen sorgen, die von beiden Seiten als fair akzeptiert werden”, sagte Europastaatssekretär David Lidington.

In Wirklichkeit dürfen sich die EU-Gegner vor allem unter den Tories über bedeutende Zugeständnisse freuen. Zunächst schlug die Wahlkommission eine Änderung der Fragestellung von einer simplen Ja/Nein-Frage, „Sind Sie für den Verbleib in der EU?”, in ein komplexeres „Soll das Vereinigte Königreich in der EU bleiben oder die EU verlassen?” vor. Premierminister David Cameron akzeptierte die Änderung umgehend. EU-Gegner frohlocken, da sie damit aus der psychologisch schwierigeren Ecke der Neinsager befreit wurden.

Zudem änderte die Regierung die Regeln für das öffentliche Engagement von Ministern in den letzten 28 Tagen vor der Volksabstimmung. Gemäß entsprechenden Forderungen von konservativen EU-Gegnern sollen Kabinettsmitglieder sich nun in der Endphase vor der Entscheidung strikt neutral verhalten müssen. Zugleich soll es der Regierung aber erlaubt sein, „eine Position zu formulieren”. Untersagt ist es aber, den Staatsapparat zur Verbreitung von Argumenten zu verwenden. Stattdessen müssen bei der Wahlkommission ein Ja- und ein Nein-Lager als führende Kräfte beider Seiten registriert werden. Sie unterliegen strengen Auflagen über Ausgaben und Werbezeiten.

An die Spitze des Nein-Lagers will sich der Führer der United Kingdom Independence Party, Nigel Farage, setzen. Unter dem Slogan „Nein zu Europa. Wir glauben an Großbritannien” wird er morgen, Freitag, sein Programm vorstellen. Es besteht aus drei Worten: „Ende der Einwanderung“. Die aktuelle Flüchtlingskrise in Europa bezeichnet er als „Exodus von biblischen Dimensionen”, und für Großbritannien fordert er eine Schließung der Grenzen.

Einer humanitären Lockerung der restriktiven britischen Flüchtlingspolitik erteilte auch Premier Cameron eine klare Absage: „Wir haben eine Anzahl von Asylsuchenden aus Syrien aufgenommen, und wir überprüfen das ständig. Aber ich glaube nicht, dass die Antwort lautet, mehr Flüchtlinge aufzunehmen.” Während (nicht nur) aus der EU Kritik an der britischen Position immer lauter wird – der katholische Kardinal Vincent Nichols spricht von einer Schande, die Opposition und einige Konservative fordern ein Umdenken –, werden Einwanderung (bei der Großbritannien ganz vorn steht) und Flüchtlingsaufnahme (bei der das Land weit zurückliegt) in der politischen Debatte weiterhin munter durcheinandergewürfelt. Alles heißt hier „Migration”.

Die EU-Gegner legen zu

Die Situation schwächt aber nicht nur die Position Londons gegenüber den EU-Partnern in den Neuverhandlungen seiner EU-Mitgliedschaft. Sie schränkt auch den Handlungsspielraum von Premier Cameron ein: Mit dem Fokus auf das Thema Einwanderung treiben Populisten wie Farage die Regierung vor sich her. Wohlabgewogene Debatten über wirtschaftliche Vor- oder Nachteile eines EU-Verbleibs werden einfach übertönt.

Schließlich findet diese Situation auch ihren Niederschlag in der Stimmungslage: Nach der jüngsten Ipsos-Mori-Umfrage von August liegen die EU-Befürworter zwar mit 44 Prozent deutlich vor den Gegnern mit 37Prozent. Bemerkenswert aber sind die Bewegungen: Das Nein-Lager hat innerhalb der letzten zwei Monate um zehn Prozentpunkte zugelegt, die Befürworter haben im selben Zeitraum 17 Prozentpunkte verloren.

Angesichts dieser mehr als volatilen Gemütslage will sich Premier Cameron in keine Richtung festlegen. Zuerst wolle man mit Brüssel verhandeln, heißt es aus seiner Umgebung, und dann den Briten die Ergebnisse präsentieren. Dass es sich vorwiegend um kosmetische und semantische Modifikationen handeln wird, daran besteht kaum mehr Zweifel. Ist das Ergebnis herzeigbar, will Cameron jüngsten Gerüchten zufolge bereits im kommenden April die Briten zur Entscheidung rufen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.09.2015)

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