Nach schweren Verlusten der Armee durch einen PKK-Angriff wächst die Kriegsangst. Präsident Erdoğan kündigt hartes Vorgehen an.
Istanbul. Bei den schwersten Gefechten zwischen türkischer Armee und PKK-Kurdenrebellen in Südostanatolien sind womöglich mehr als 30 Soldaten getötet worden. Der mit mehreren hundert Kämpfern vorgetragene Angriff der PKK bei Dağlica in der Nähe der irakischen Grenze schockte Öffentlichkeit und Politik in Ankara: Regierung und Armee gaben zunächst keine genauen Opferzahlen bekannt. Nun will Präsident Recep Tayyip Erdoğan noch härter gegen die PKK vorgehen als bisher. Einige Politiker und Beobachter sehen die in weniger als zwei Monaten anstehende Neuwahl des Parlaments in Gefahr.
Die PKK-Rebellen, die im Irak ihr Hauptquartier haben, können das nur wenige Kilometer nördlich der irakischen Grenze gelegene Dağlica in etwa sieben bis acht Stunden Fußmarsch erreichen. Der gut vernetzte Sicherheitsexperte Metin Gürcan schrieb auf Twitter, rund 500 bis 600 Rebellen hätten ein Armee-Bataillon in Dağlica eingekesselt und zwei gepanzerte Truppentransporter in die Luft gesprengt. Ein Sturm in der gebirgigen Gegend hinderte die Armee daran, mit Kampfhubschraubern gegen die PKK-Einheiten vorzugehen.
Schwankende Opferzahlen
Die Nachrichtenagentur Reuters meldete unter Berufung auf Sicherheitskreise, 16 Soldaten seien ums Leben gekommen. Die PKK sprach von 31 Toten, andere Quellen berichteten von bis zu 40 Opfern, darunter der Bataillonskommandant.
Sollte sich die letztgenannte Opferzahl bestätigen, wäre der Angriff von Dağlica der schlimmste Einzelverlust für die türkische Armee bei einem Zusammenstoß mit der PKK seit Beginn des Konfliktes im Jahr 1984. Vor vier Jahren starben 24 Soldaten bei einem PKK-Angriff in der Provinz Hakkari, zu der Dağlica gehört. Seit Sonntag sollen in Dağlica über 70 PKK-Rebellen getötet worden sein.
Noch bevor die genauen Opferzahlen bekannt waren, deutete sich an, dass die Gewalt in Dağlica ein Wendepunkt sein könnte, der aus den seit Juli eskalierenden Kämpfen einen neuen Krieg macht. Erdoğan sagte in einem Fernsehinterview, die Antwort Ankaras auf die neue PKK-Attacke werde „ganz anders und sehr viel entschiedener sein“ als die bisherigen Militäraktionen.
Nicht nur die PKK lässt die Lage eskalieren. Kurdenvertretern zufolge kamen im südosttürkischen Cizre, das von den Sicherheitskräften abgeriegelt ist, sechs Zivilisten ums Leben, darunter ein Kleinkind und ein zehnjähriges Mädchen. Einige Gegenden des Kurdengebietes wurden von Behörden zu militärischen Sperrzonen erklärt, mancherorts wurden Ausgangssperren verhängt.
Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu kam mit politischen und militärischen Beratern zu einer kurzfristig anberaumen Lagebesprechung zusammen. Der Chef der legalen Kurdenpartei HDP, Selahattin Demirtaş, brach wegen der neuen Gefechte einen Besuch in Berlin ab und kehrte nach Ankara zurück.
Angriff auf die „Hürriyet“
Demirtaş forderte, Regierung und Kurden müssten gemeinsam nach einem Ausweg aus der Gewalt suchen. Doch danach sieht es derzeit nicht aus. In mehreren Städten der Türkei gingen Nationalisten zu Protestdemonstrationen gegen die PKK auf die Straße. Aufgebrachte Erdoğan-Anhänger bewarfen die Zentrale der „Hürriyet“ mit Steinen; sie waren über die Berichterstattung der Zeitung über Erdoğans Fernsehinterview verärgert. Die Türkei werde zwischen der PKK und der Erdoğan-Partei AKP zerquetscht, kommentierte der Journalist Ihsan Dağ: „Willkommen in der Hölle.“ In dem Fernsehinterview erklärte Erdoğan, wenn die Parlamentswahl vom Juni eine Mehrheit für das von ihm angestrebte Präsidialsystem ergeben hätte, sähe die Lage heute ganz anders aus. Kritiker werfen dem Präsidenten vor, die Spannungen im Kurdengebiet zu forcieren, um der AKP bei der November-Wahl einen Vorteil zu verschaffen.
Inzwischen wird wegen der Gewalt jedoch über eine Verschiebung der Wahl diskutiert. Schon vergangene Woche hatte Demirtaş gesagt, die Sicherheitslage im Kurdengebiet mache eine geordnete Stimmabgabe dort unmöglich. Meinungsforscher Özer Sencar erklärte, angesichts schlechter Umfragewerte der AKP und Zugewinnen für Demirtaş' HDP könne sich Erdoğan entschließen, die Wahl zu verschieben.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.09.2015)