Wer sind die Syrer, die zu uns kommen?

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Sie flohen vor Artillerieangriffen und davor, gegen ihre Landsleute kämpfen zu müssen – oder wollten schon vor vielen Jahren ein neues Leben aufbauen. Von Menschen, die es von Syrien nach Österreich verschlagen hat.

Mit Wehmut erinnert sich Mohammed zurück an das Kino nahe dem Semiramis-Hotel in Damaskus. Als es 2005 öffnete, war es das modernste Kino in Syriens Hauptstadt. Immer wieder war Mohammed in seiner Freizeit dort. Die Augen des 27-jährigen Syrers leuchten heute noch, wenn er von einem der ersten Filme erzählt, der dort gezeigt wurde: „Troja“, der opulente Hollywood-Blockbuster mit Stars wie Brad Pitt. Es sind nur Erinnerungen wie diese, die Mohammed von seiner einstigen Heimatstadt geblieben sind. Heute toben in den Vororten von Damaskus schwere Kämpfe. Artillerie und Luftwaffe des syrischen Regimes haben ganze Viertel in Schutt und Asche gelegt. Und in al-Ghouta, am Ostrand der Hauptstadt, starben 2013 hunderte Menschen bei Giftgasangriffen.

Mohammed versuchte, den Wahnsinn des Krieges so lang wie möglich nicht an sich heranzulassen. Er konzentrierte sich darauf, sein Wirtschaftsstudium zu beenden. Sein Abschlussdiplom holte er aber nicht mehr ab: Kurz bevor er von Amtswegen nicht mehr als Student galt, reiste er in den Libanon aus. Damit kam er seiner Einberufung zur Armee des Regimes zuvor. „Ich wollte nicht gegen meine eigenen Landsleute kämpfen“, erzählt er. Die Vision des jungen Mannes von seiner Zukunft war nicht die Vision eines Gemetzels, in dem die Regimetruppen Wohngebiete zerstören; und in dem unter den Aufständischen auch extremistische Gruppen ihr Unwesen treiben, die Menschen verschleppen und töten. Er wollte ein normales, friedliches Leben führen.

Heute ist der 27-Jährige einer der Tausenden von Syrern, die sich mittlerweile nach Österreich gerettet haben. Er ist anerkannter Flüchtling und arbeitet im Urban's, einem neuen Lokal nur wenige Gehminuten vom Wiener Hauptbahnhof entfernt.

(c) Die Presse (Clemens Fabry)

Menschen aus der Mittelschicht. Der Hauptbahnhof ist einer der Brennpunkte der Ankunft neuer Flüchtlinge in Wien. Die Menschen ruhen sich hier aus, Helfer verteilen Wasser und Nahrung. Die meisten der Flüchtlinge sind über Ungarn und die sogenannte Balkan-Route nach Österreich gelangt. Laut Rotem Kreuz befanden sich am Samstag 14.000 Menschen auf der Durchreise durch Österreich, 11.000 davon hatten in Notquartieren übernachtet. Am Freitag waren zudem erneut weitere 10.000 Flüchtlinge in Kroatien eingetroffen.

Die Flüchtlinge stammen vor allem aus Syrien, Afghanistan oder dem Irak. Wer genau die Syrer sind, die jetzt hier ankommen, darüber gibt es bis dato keine verlässlichen Statistiken. Klar ist, dass sie zumindest aus der Mittelschicht ihres Landes stammen müssen. Denn für die Reise nach Europa braucht man viel Geld, oft mehrere tausend Euro, um die Schlepper bezahlen zu können.

Das Syrien vor dem Krieg zählte zu einem der modernsten Länder in der Region. Man konnte eine gute Ausbildung genießen. Die Alphabetisierungsrate der 15- bis 24-Jährigen liegt heute bei rund 95 Prozent. Vor allem der jetzige Machthaber Bashar al-Assad hatte versucht, das Land weiter zu modernisieren. Bashar war der zweitälteste Sohn des langjährigen Diktators Hafez al-Assad. Nachdem sein Vater im Juni 2000 gestorben war, wurde Bashar neuer Staatschef. Bashar al-Assad hatte in England sein Studium als Augenarzt absolviert. Nun kam unter der Regie des damals erst 34-jährigen neuen Machthabers zunächst manches in Wirtschaft und Gesellschaft in Bewegung. Der Bankensektor wurde liberalisiert, eine Aktienbörse etabliert, ausländische Investoren strömten ins Land. Vor allem die säkularen und gebildeten städtischen Mittelschichten in Aleppo und Damaskus profitierten von der ökonomischen Öffnung.

Zugleich fraß das hohe Bevölkerungswachstum den Großteil der Wirtschaftserfolge wieder auf. 1970 gab es 6,2 Millionen Syrer, im vergangenen halben Jahrhundert wuchs ihre Zahl auf etwa 22 Millionen. Zwei Drittel der Syrer sind jünger als 35 Jahre, in den Friedenszeiten vor dem März 2011 drangen Jahr für Jahr 200.000 Schulabgänger auf den Arbeitsmarkt, der diese Massen nicht absorbieren konnte. Folglich setzten immer mehr Familien darauf, ihren Kindern durch eine möglichst gute Schulbildung die Auswanderung zu ermöglichen. Hunderttausende Syrer, darunter viele Akademiker und Ärzte, leben und arbeiten seit Jahrzehnten in der Golfregion.

Korruption und Führerkult. In Österreich war die syrische Community vor dem Syrien-Krieg relativ klein. Laut Daten der Statistik Austria vom 1. Jänner 2013 lebten etwas mehr als 4000 Personen, die die syrische Staatsbürgerschaft besitzen oder in Syrien geboren sind, in Österreich. Einer davon ist der 35-jährige Adam Ghanam. Er kam vor 15 Jahren aus Syrien nach Österreich, wo bereits seine Tanten lebten. „Ich war schon zuvor immer wieder in Wien zu Besuch gewesenund konnte deshalb Syrien mit Österreich vergleichen“, erzählt er. „In Syrien litten wir unter furchtbarer Korruptionder Beamten. Die Menschendurften nicht sagen, was sie wollten. Überall hingen nur Bilder des Präsidenten und jede zweite Straße war nach einem Mitglied des Regimes benannt.“ Ghanam wollte deshalb in Österreich leben. Er kam mit einem Studentenvisum nach Wien und blieb dann hier, um zu arbeiten.

»Europäer mit syrischen Wurzeln«. In Syrien absolvierte Ghanam eine Gastronomieberufsschule mit Matura und arbeitete im Hotel Sheraton in Damaskus. Auch in Wien ist er diesem Metier treu geblieben. Der 35-Jährige, der mittlerweile österreichischer Staatsbürger ist, hat mit einem Verwandten im Sonnwendviertel nur unweit des Hauptbahnhofs das Lokal Urban's eröffnet. Es ist als modernes Lounge-Restaurant konzipiert, mit internationalen Speisen, aber auch einigen Gerichten aus dem Orient. „Wir sind Europäer und leben in Österreich. Trotzdem wollten wir auch einen Bezug zu unseren Wurzeln herstellen.“

Auch Mohammed, der 27-jährige Syrer, der geflohen ist, um sich nicht an dem Abschlachten in seinem Land beteiligen zu müssen, arbeitet hier. Adam Ghanam hat österreichische Angestellte, aber auch Syrer, die bereits als Flüchtlinge anerkannt worden sind. „Ich habe zu Beginn in Österreich eine Chance bekommen. Davon will ich etwas an die Syrer weitergeben, die jetzt hierherkommen und ein so schweres Schicksal erleiden mussten.“

Auch der 19-jährige syrische Flüchtling Khalid arbeitet im Urban's. In Syrien lebte er mit seiner Familie im Süden von Damaskus. 2011 wurde auch hier gegen Assad demonstriert. Anfangs griff das Regime die Menschen in dem Viertel mit Scharfschützen an, später dann mit Flugzeugen und Artillerie. Khalids Familie floh 2012 zuerst nach Ägypten. Als dann auch Ägyptens Hauptstadt Kairo von neuen gewaltsamen Protesten erschüttert wurde, setzten sie sich in einem Flüchtlingsboot nach Europa ab.

Khalid erinnert sich daran, wie er im Damaskus vor dem Krieg mit seinen Freunden durch Cafés und Einkaufszentren flaniert ist – in der Hoffnung, vielleicht die Bekanntschaft von Mädchen zu machen. Aber ihm war auch schon damals – inmitten dieser städtischen Beschaulichkeit – klar: Man musste sehr vorsichtig sein, wenn man über Politik sprach.

Gegensätze zwischen Stadt und Land. Die sozialen Gegensätze zwischen Stadt und Land wurden in Syrien vor allem in den drei Jahren vor dem Aufstand durch schwere Dürreperioden verschärft. Die Agrarwirtschaft trug damals 22 Prozent zum Bruttosozialprodukt bei. 25 Prozent zum Volkseinkommen steuerten die Vorkommen an Öl und Gas bei. Ein weiteres Viertel generierten Handel und Industrie, die vor allem Lebensmittel, Zement, Textilien und Tabak produzierte. Zwölf Prozent kam vom Tourismus. Im letzten Jahr vor dem Bürgerkrieg besuchten 8,5 Millionen Reisende das Mittelmeerland mit seinem vielfältigen Kulturerbe. Damaskus gilt als eine der ältesten, noch heute bewohnten Städte der Welt.

Syrien ist ein Staat mit einer religiös und ethnisch bunt zusammengewürfelten Bevölkerung aus Muslimen und Christen, aus Arabern und Kurden. Drei Viertel der Syrer sind sunnitische Muslime, zwölf Prozent gehören den Schiiten und Alawiten an, der Religionsgemeinschaft des Assad-Clans. Zehn Prozent sind Christen: Ihre Wurzeln reichen zurück bis in die römische und byzantinische Zeit.„Ich habe die Assad-Diktatur kritisiert. Aber ich war immer stolz auf das Zusammenleben all dieser Menschen mit unterschiedlichen Religionen“, sagt Adam Ghanam, der aus einer sunnitischen Familie stammt. „90 Prozent der Syrer haben die Revolte wegen des Wunsches nach Freiheit begonnen und nicht wegen der Religion.“ Zugleich fürchtet er aber, dass die „schöne syrische Mentalität des Zusammenlebens“ durch den Krieg verloren gegangen ist. Je blutiger der Kampf in Syrien wurde, desto größer wurde auch der Einfluss extremistischer Gruppen unter den Aufständischen – bis hin zum Aufstieg der Jihadisten-Miliz IS, der dem Regime anfangs durchaus ins strategische Konzept gepasst hatte.

„Ich sehe in Syrien keine Zukunft mehr. Land und Gesellschaft sind zerstört“, sagt der 27-jährige Mohammed. Er versucht jetzt zunächst einmal, im Urban's „einer der besten Pizza-Köche“ zu werden, wie er augenzwinkernd sagt. Seine Eltern haben ihm aus Syrien sein Uni-Abschlussdiplom zugeschickt, das er selbst nicht entgegengenommen hat, um nicht zum Militär eingezogen zu werden. „Ich will Deutsch lernen und neben der Arbeit weiterstudieren.“

KAMPF gegen IS

Wieland Schneider, Redakteur der „Presse“, schildert in seinem neuen Buch die Hintergründe und Folgen des Kampfes gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS).

»Krieg gegen das Kalifat – der Westen, die Kurden und die Bedrohung Islamischer Staat«, Braumüller Verlag, Wien (Link)

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.09.2015)

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