Anne Applebaum: "So beginnen Weltkriege"

Aufnahmen von Luftanschlägen des russischen Militärs in Maarat al-Numan.
Aufnahmen von Luftanschlägen des russischen Militärs in Maarat al-Numan.REUTERS
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Russlands Militäraktionen in Syrien und der Ukraine folgen westlicher Planlosigkeit, warnt Anne Applebaum, Osteuropa-Expertin und Pulitzer-Preisträgerin, gegenüber der »Presse am Sonntag«. Wladimir Putin wende dabei alte Mittel des NKWD an.

Was bezweckt Russlands Präsident, Wladimir Putin, mit seinem Einschreiten in Syrien?

Anne Applebaum: Erstens lenkt das den Fokus des Westens von der Ukraine ab. Zweitens haben die russischen Medien aufgehört, über die Ukraine zu reden; sie sind nun ganz auf Syrien konzentriert. Putins Politik gegenüber der Ukraine hatte nur diesen langwierigen Konflikt zur Folge, in dem kein für Russland positives Ende absehbar ist. Drittens denke ich, dass ihm weder die Syrer am Herzen liegen noch Assad im Speziellen, sondern dass er Fernsehbilder vermeiden möchte, auf denen zornige Massen Assads Palast stürmen und ihn ins Gefängnis werfen. Putin will den Autokraten Assad stärken, um der Möglichkeit einer Revolution in Russland vorzubeugen.


Handelt er aus einer Position der Stärke oder Schwäche?

Das Eigenartige an Russland ist, dass es gleichzeitig stark und schwach ist. Putin kontrolliert bei Weitem mehr Hebel der Macht, als wir im Westen es uns vorstellen können. Es ist, als würde Präsident Obama Exxon, die „New York Times“, CNN, die CIA, das FBI und den Kongress kontrollieren. Putin ist also stark, weil er den Medien die Botschaften diktieren kann, weil er seine Geheimpolizei und sein Militär einsetzen kann, wie das im Westen nicht möglich ist. Aber er ist auch schwach, weil die Volkswirtschaft geschwächt ist. Und das Land ist durch und durch korrupt. Geld wird verschwendet. Im Land ist ein Gefühl des Niederganges zu spüren.


Viele Menschen halten Putin für einen genialen Puppenspieler. Andere argumentieren, dass er keinen Plan hat, sondern bloß würfelt und schaut, was passiert. Ist Putin der große Stratege oder nur ein Hasardeur?

Er hat vielleicht keinen Plan – aber eine Strategie. Die lautet: An der Macht bleiben, indem er dem russischen Volk zeigt, dass die Stärke und das Aufleben Russlands von ihm persönlich abhängen. Darüber hinaus denke ich, dass er spontan Gelegenheiten ergreift. Das ist eine alte russische Art und Weise, Außenpolitik zu betreiben. Stalin hat das schon so gemacht. Für uns im Westen ist das anders, wir haben keine Strategie. Wir denken nicht geopolitisch. Wir überlegen uns nicht, was wir auf der Welt erreichen wollen, und arbeiten uns davon ausgehend zur Frage zurück, was wir dafür konkret machen müssen. Darum ist Putin so verwirrend für uns.


Hat die US-Regierung zu Putins Erstarken auf der Weltbühne beigetragen?

Ja. Obama hat den Eindruck erweckt, dass er Amerika aus der Welt zurückziehen und weniger militärisches Engagement in Übersee haben will. Das hat ein Vakuum eröffnet. Und wenn es deshalb in Syrien keine schlüssige westliche Strategie gibt, kann Putin einsteigen und tun, was er jetzt tut.

Einerseits Obama, der Zauderer, andererseits John Kerry, der diplomatische Schwerarbeiter: Können Sie eine außenpolitische Obama-Doktrin erkennen?

Es war immer schon so, dass man aus US-Regierungen verschiedene Geräusche hört. Aber es stimmt: In Washington herrscht ein Gefühl des Überdrusses. Obamas intellektuelles Verlangen danach, sich zurückzulehnen, andere Leute eine Sache ausfechten und entscheiden zu lassen, hat diesen Eindruck des Chaos und der Unentschlossenheit verstärkt. Er mag keine militärische Lösung für Syrien sehen – aber eine diplomatische Lösung hat er auch nicht entwickelt. In der Ukraine-Krise, die eindeutig ein militärischer Konflikt ist, der eine militärische Lösung hat, hat er sich zurückgelehnt und Angela Merkel das Problem überlassen.


Sie haben ausgiebig über Stalins Machtergreifung in Zentral- und Mitteleuropa nach 1944 und das sowjetische Gulag-System geforscht und publiziert. Inwiefern helfen Ihnen diese Studien, Putin zu verstehen?

Als ich die Invasion auf der Krim sah, mit den Soldaten ohne Insignien in Truppentransportern ohne Kennzeichen, die in einer Stadt nach der anderen das Rathaus und die Radiostation besetzten, sagte ich mir: Ich weiß genau, was da geschieht – denn genau dasselbe ist 1944 und 1945 in Ländern wie Polen passiert. Das ist ein NKWD-Plan (Innenministerium der UdSSR, Anm.). Der ist damals auch in Uniformen ohne Insignien und Lastautos ohne Kennzeichen gekommen, hat behauptet, als Befreier zu kommen oder als Funktionäre der polnischen kommunistischen Partei, dabei waren es in Wahrheit Russen. Es gibt also eine Kontinuität im Denken über die Welt und außenpolitische Mittel: weniger mit der kommunistischen Vergangenheit, als mit Taktiken des KGB, des NKWD, der Tscheka. Das ist schlüssig: Putin wurde im sowjetischen KGB ausgebildet, hat seine Geschichte lang studiert.

Hätte Putin so einfach die Oberhand im rhetorischen Kampf, wenn die USA 2003 nicht in den Irak einmarschiert wären?

Nein. Putin erfindet die Fehler und Spaltungen des Westens nicht. Er vergrößert sie bloß. Er hat Marine Le Pen nicht erfunden – aber er unterstützt sie.


Auch finanziell.

Auch finanziell. Er hat die FPÖ nicht erfunden, aber er unterstützt sie, als Teil eines prorussischen rechtsextremen Netzwerks in Europa.


Manche Analysten befürchten, dass der Herbst 2016, rund um die US-Präsidentenwahl, ein idealer Zeitpunkt für Putin wäre, einen hybriden Angriff auf die drei baltischen EU-Staaten zu lancieren: Obama ist dann eine lahme Ente, die neue Regierung noch nicht im Amt. Teilen Sie diese Sorge?

Ja, so etwas ist möglich. Die Obama-Regierung ist schon jetzt ermüdet und schlägt keine neuen Ideen mehr vor.


In der Nato und im Pentagon hat man Szenarien russischer Angriffe auf die baltischen Staaten durchgespielt. Am Ende verlieren stets die Nato-Staaten – vor allem, weil die Russen von Kaliningrad und der Krim aus die Truppentransporte unterbinden können.

Da stimmt. Die Nato täte sich schwer, eine volle Invasion abzuwehren, außer wir wären bereit, schnell zu eskalieren.


Beginnen so Weltkriege?

Ja. So beginnen Weltkriege.


Wie verhindern wir das?

Indem wir die Nato reformieren und zum Prinzip der Abschreckung aus dem Kalten Krieg zurückkehren. Dazu braucht es Waffen, Stützpunkte in Mittel- und Osteuropa. Zudem sollten wir die Frage des Informationskrieges ernster nehmen. In ganz Europa setzt Russland Geld, Korruption und Websites ein, um unsere Politik zu ändern.


Manche EU-Länder, Österreich ist eines davon, sind Putin gegenüber ziemlich freundlich eingestellt. Ist es gut, wenn man sozusagen eine rhetorische Pufferzone in Europa hat, in der man miteinander reden kann?

Schauen Sie, ich habe nichts dagegen, miteinander zu reden. Mein Problem mit Österreich im Speziellen ist aber die Bereitschaft, russisches Geld zu waschen. Das ist einer der Gründe, wieso Putin so lang an der Macht bleiben kann: Weil westliche Staaten so bereitwillig dabei geholfen haben, Geld vom russischen Staat zu stehlen, es außer Landes zu schaffen und zu waschen.


Was sollte Österreich tun?

Österreich sollte aufhören, russisches Geld zu waschen. Auch um seiner selbst willen. Denn andernfalls fallen Sie dieser Korruption selbst zum Opfer. Russlands Unterstützung für die FPÖ ist klar, und es mag russische Unterstützung für andere gesellschaftliche und politische Gruppen geben. Wenn Sie ein unabhängiges Land bleiben wollen, dann sollten Sie das stoppen.

Steckbrief

Anne Applebaum (*1964, Washington). Nach Studien in Yale, London und Oxford „Economist“-Korrespondentin in Warschau beim Fall des Eisernen Vorhangs. 2004 Pulitzerpreis für „Gulag: A History“. „Iron Curtain: The Crushing of Eastern Europe 1944–56“ wurde für den National Book Award nominiert. Verheiratet mit dem früheren polnischen Außenminister Radosław Sikorski. Applebaum sprach mit der „Presse am Sonntag“ beim CEPA Forum (www.cepaforum.org) in Washington.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.10.2015)

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