Die Versorgung der Menschen in Syrien wird mit dem Anstieg der Kämpfe immer schwieriger, warnt Rotkreuz-Chef Maurer.
Wien/Damaskus. Wo die schwarze Flagge weht, verzeichnet Peter Maurer einen weißen Fleck auf der Landkarte. Das Rote Kreuz ist dafür bekannt, Zugang zu Konfliktgebieten zu erhalten, die andere Hilfsorganisationen längst nicht mehr erreichen. Aber in Syrien, das räumt der Präsident des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (IKRK) im Gespräch mit der „Presse“ ein, ist das in vielen Gegenden sehr schwierig geworden. Vor allem dort, wo der Islamische Staat (IS) und andere Oppositionsgruppen herrschen. „Das bedeutet nicht, dass wir dort gar keine humanitäre Hilfe leisten können, aber sie erfolgt eher sporadisch und punktuell.“
Nach viereinhalb Jahren Bürgerkrieg mit vier Millionen Flüchtlingen und acht Millionen intern Vertriebenen ist diese Krise zur größten Operation des IKRK geworden. Mit über 150 Millionen Euro jährlich ist das Budget für Syrien doppelt so hoch wie das für Afghanistan, das über ein Jahrzehnt an der Spitze aller Rotkreuz-Aktivitäten gestanden ist.
17 Millionen Menschen hat die Organisation zusammen mit dem syrisch-arabischen Roten Halbmond 2014 mit Wasser versorgt, also mehr als 90 Prozent aller im Land verbliebenen Menschen, und immerhin fünf bis sieben Millionen Binnenflüchtlinge mit Essen und Haushaltssachen. Aber die Geschwindigkeit, mit der humanitäre Hilfe geleistet werden könne, sagt Maurer, „hält nicht stand mit der Ausweitung der Kämpfe, mit der Verbreitung der Not, den Vertreibungen, den Attacken auf die Spitäler“. Der Graben zwischen den Bedürfnissen und Not auf der einen Seite und der humanitären Hilfe auf der anderen werde immer größer.
„Groß angelegte Bodenoffensive“
Die neusten Entwicklungen in dem Bürgerkriegsland haben das Potenzial, diese Kluft noch weiter zu vergrößern: Bestärkt durch die russischen Luftschläge hat das Regime in Damaskus eine groß angelegte Bodenoffensive angekündigt. Der Kampf gegen den IS und andere Rebellengruppen werde massiv ausgeweitet, hat der syrische Generalstabschef Ali Abdulla Ayoub am Donnerstag im Staatsfernsehen mitgeteilt. Die Offensive konzentriert sich derzeit offenbar auf die zentrale Provinz Hama, mit russischer Hilfe aus der Luft.
Syrische Regierungstruppen und verbündete Milizen griffen am Donnerstag im Westen des Landes außerdem weitere Rebellenstellungen an. Laut der oppositionellen Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte in London galten die Angriffe Aufständischen in der Ghab-Ebene. Das Gebiet steht unter Kontrolle einer Rebellenallianz, zu der auch der syrische al-Qaida-Ableger al-Nusra-Front gehört. IS-Kämpfer finden sich in diesem Gebiet nicht.
Gleichzeitig wachsen die diplomatischen Spannungen. Der türkische Präsident, Recep Tayyip Erdoğan, ließ seinem russischen Kollegen, Wladimir Putin, über die Medien ausrichten, Moskau solle sich genau überlegen, was es tue. Die Nato erwägt auch wegen der wiederholten Verletzung des türkischen Luftraums durch russische Kampfjets, mehr Truppen in die Türkei zu verlegen. Generalsekretär Jens Stoltenberg forderte Russland auf, die Hilfe für das Regime von Machthaber Bashar al-Assad einzustellen.
IKRK-Präsident Maurer sorgt sich bei diesen Entwicklungen vor allem um die Menschen zwischen den Kampflinien. „Wir haben eine große Anzahl von Menschen, die zwischen den Fronten leben.“ Zu diesen Leuten Zugang zu erhalten, sei besonders schwierig und gefährlich. Schließlich müssen alle beteiligten Seiten zustimmen.
Die medizinische Versorgung ist dabei zum Spielball zwischen den Konfliktparteien geworden. „Medizinische Hilfe steht immer unter dem Verdacht, dass sie dazu dient, den Gegner zu stärken“, sagt Maurer. Deshalb bereite ihm dieses Programm in Syrien, das mobile Kliniken und Hilfe für bestehende Spitäler umfasst, auch die größte Sorge. Die medizinische Versorgung werde von allen Kriegsparteien als „strategischer Faktor der Kriegsführung“ benutzt. Das Gesundheitssystem ist längst zusammengebrochen. Die Leidtragenden sind die Zivilisten. „Eine Grippe kann in Syrien heute tödlich sein.“ (raa/ag.)
Zur Person
Peter Maurer, Jahrgang 1956, ist seit 2012 Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK). Der Schweizer Sozialdemokrat war zuvor im diplomatischen Dienst seines Landes, zuletzt als Staatssekretär im Außenministerium. In Wien nahm er an einer Konferenz zum 50. Jubiläum der weltweit geltenden Rotkreuz-Grundsätze teil.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.10.2015)