Friedensnobelpreis: „Ermutigung für aufgewühlten Nahen Osten“

POLITIK Tunesische nationale Dialog Quartett gewinnt Friedensnobelpreis The three Presidents Ali La
POLITIK Tunesische nationale Dialog Quartett gewinnt Friedensnobelpreis The three Presidents Ali La(c) imago/Chokri Mahjoub (imago stock&people)
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Das tunesische „Quartett für den nationalen Dialog“ vermittelte während der Staatskrise 2013 und bewahrte das Land vor dem Abrutschen in Gewalt. Die Ehrung soll dazu beitragen, die noch junge Demokratie zu schützen.

Tunis/Kario. Tunesiens Gewerkschaftschef Houcine Abassi kann seine Freude kaum fassen. „Ich bin überwältigt“, jubelte der 68-Jährige und widmete spontan sein Viertel des diesjährigen Friedensnobelpreises den „Märtyrern für ein demokratisches Tunesien“. Dieser Einsatz der Jugend habe dem Land die Chance eröffnet, die Diktatur abzuschütteln, erklärte der charismatische Arbeiterführer, der zu den Schlüsselfiguren der tunesischen Zivilgesellschaft gehört. Die Entscheidung von Oslo kröne „die mehr als zweijährigen Anstrengungen des Quartetts, als unser Land an allen Fronten in Gefahr war“.

Denn dieses „Quartett für den nationalen Dialog“, dem neben dem tunesischen Gewerkschaftsverband (UGTT) auch der tunesische Arbeitgeberverband (UTICA), die tunesische Menschenrechtsliga (LTDH) sowie die Anwaltskammer angehören, hat nach dem Urteil des Nobelkomitees „einen entscheidenden Beitrag für das Entstehen einer pluralistischen Demokratie in Tunesien nach der Jasminrevolution geleistet“. Die Ehrung sei eine „Ermutigung für das tunesische Volk und eine Inspiration für andere, besonders in dem aufgewühlten Nahen Osten“, hieß es in der Begründung. Die Jury hoffe, der Preis werde helfen, „die tunesische Demokratie zu schützen“.

Willkommener Zuspruch

Das kleine Tunesien mit seinen elf Millionen Bürgern kann den globalen Zuspruch durch den Nobelpreis 2015 gut gebrauchen. Der Mittelmeeranrainer ist die Wiege des Arabischen Frühlings und inzwischen das einzige Revolutionsland, das bisher den Absturz in Anarchie und Bürgerkrieg wie in Libyen, Syrien und Jemen oder den Rückfall in ein autoritäres Staatsregime wie in Ägypten vermeiden konnte. Grund dafür sind vor allem die starke Zivilgesellschaft sowie die mächtigen Gewerkschaften, die seit dem Sturz des Diktators Zine el-Abidine Ben Ali mit ihrem Quartett eine Plattform für einen nationalen Dialog schufen, der bei der Staatskrise Ende 2013 alle Kontrahenten an einen Tisch und zu einem rettenden Megakompromiss zwang. Nach den beiden spektakulären Morden an den Linkspolitikern Chokri Belaid und Mohamed Brahmi stand die Zukunft Tunesiens damals auf Messers Schneide. Aufgebrachte Bürger demonstrierten in den Straßen, Gewalttaten und Übergriffe häuften sich, die ganze Nation drohte, aus dem Ruder zu laufen.

Auf Vermittlung des Quartetts verhandelten das islamistische und säkulare Lager zunächst alle strittigen Probleme der postrevolutionären Verfassung, sodass die total gelähmte Verfassungsgebende Versammlung das neue Grundgesetz schließlich am 26. Januar 2014 mit überwältigender Mehrheit verabschieden konnte. Parallel dazu erklärte sich die seit 2011 amtierende Interimsregierung unter Führung der islamistischen Ennahda bereit, den Weg für ein Kabinett aus Technokraten frei zu machen. Die neue Regierung organisierte in der zweiten Hälfte 2014 dann die ersten regulären und freien Parlaments- und Präsidentenwahlen seit der Unabhängigkeit Tunesiens. Beide Abstimmungen resultierten in friedlichen Machtwechseln, in der politischen Landschaft des Nahen Osten eine absolute Rarität.

Doch die Nobelgewinner des Quartetts wissen, dass der Weg von den euphorischen Tagen im Januar 2011 hin zu einer stabilen demokratischen Nation noch lang und steinig ist. Über 15 Prozent Arbeitslosigkeit, eine stotternde Wirtschaft sowie die Terrorgefahr sind die brennenden Probleme, die das Land beschäftigen. Bei einem Massaker im März vor dem Bardo-Museum in Tunis starben 22 Menschen, drei Monate später richtete ein junger Tunesier in Sousse mit einer Kalaschnikow am Strand 38 Touristen hin. Mehr als 3000 junge Tunesier kämpfen inzwischen an der Seite des sogenannten Islamischen Kalifats. „Ihr werdet kein ruhiges Leben mehr haben, wenn in Tunesien nicht die Scharia eingeführt wird“, drohten die Fanatiker per Videobotschaft ihren Landsleuten.

„Würde, Freiheit, Arbeit“, lauteten 2011 die Ideale des tunesischen Volksaufstands – und so werden dem Quartett in den nächsten Jahren die Themen nicht ausgehen. Folter, Haft und Verfolgung politischer Gegner durch das Ben-Ali-Regime sollen durch eine Wahrheitskommission nach dem Vorbild von Südafrika aufgearbeitet werden. Für Empörung sorgt derzeit ein Gesetzentwurf, der Straffreiheit für korrupte Geschäftsleute des alten Regimes vorsieht, wenn sie die unterschlagenen Millionen zurückzahlen. „Wir vergeben nicht“, skandieren beinahe täglich Demonstranten vor dem Stadttheater von Tunis auf dem Boulevard Bourguiba, wo am 14. Januar 2011 Hunderttausende den Sturz Ben Alis feierten. „Vergeben wird nur vor Gericht“, steht auf den Transparenten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.10.2015)

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