Argentinien: Ex-Rennfahrer nimmt Kurs auf Präsidentenamt

(c) AFP (JUAN MABROMATA)
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Daniel Scioli, opportunistischer Peronist und ehemals Speedboat-Kapitän, hat beste Chancen, Staatschefin Kirchner bei der Wahl am Sonntag zu beerben.

Buenos Aires. Diese Botschaft ging an den verstorbenen Vater, aber irgendwie auch an das ganze Land: „Papa! Misión cumplida“, schrieb Daniel Scioli mit Filzstift auf eine weiße Tafel in der Universidad de la Empresa Argentina. „Papa! Mission erfüllt“ bezog sich auf die letzte von neun Uniprüfungen, die Scioli nachholte, um das Marketingstudium mit Diplom abzuschließen. Aber diese Zeile, getextet am Tag der letzten Prüfung drei Wochen vor der Präsidentschaftswahl in Argentinien, sollte wohl auch ausdrücken: „Hier ist einer, der Altlasten beseitigt!“ Argentinien, das wissen die meisten Bürger, hat eine Menge Altlasten. Kommenden Sonntag wählt das Land den Mann, der den Scherbenhaufen abtragen soll, den das „modelo“ der Dynastie Kirchner hinterlassen hat.

Daniel Scioli glaubt, er sei der Richtige, er führt alle Umfragen an. Nach dem ungewöhnlichen Wahlrecht reichen ihm 40 Prozent der Stimmen, wenn der Abstand zum Zweitplatzierten mehr als zehn Prozentpunkte beträgt. „Ich habe mich mein Leben lang darauf vorbereitet, Präsident dieses Landes zu sein“, ist einer seiner Standardsätze. Ein anderer lautet: „Ich bin's, der Daniel, ihr kennt mich!“

Das stimmt – und stimmt auch wieder nicht. Denn, ja, das ganze Land kennt Daniel Scioli, seit er 1990 auf dem Río Paraná einen fatalen Unfall mit seinem Speedboat baute. Der Millionärssohn und Studienabbrecher, den seinerzeit eher Foto- als Denkmodelle faszinierten, verlor dabei fast den ganzen rechten Arm. Wie einst Niki Lauda ließ sich Scioli nicht durch die Schmerzen bremsen und stieg wieder ans Steuer. 1996, als frischgekürter Weltmeister, wechselte er vom Power-Boot ins Parlament, in die Reihen der vermeintlich volksnahen Peronisten, die manchmal rechts sind, manchmal links, aber meistens reich. Bald war Scioli Sportminister, Vizepräsident von Néstor Kirchner und Gouverneur der Provinz Buenos Aires. Nun ist er der Favorit für die Nachfolge einer Präsidentin, die nie einen Nachfolger aufbauen wollte. Bei den Vorwahlen im August holte Scioli 38,5 Prozent, der zweitplatzierte Mauricio Macri, auch er Millionärssohn, lag acht Punkte dahinter. Soweit der Scioli, den alle kennen.

Flaute in der Wirtschaft

Aber dann sind da auch viele Rätsel. 57 Jahre ist der Mann, dessen Nachnamen die Argentinier „Sjoli“ aussprechen. Aber nach 19 Jahren in der Politik fragen sich viele, wo er steht. Damals, in den liberalen Neunzigern, verklärte er seinen Polit-Paten zur Reinkarnation des alten Perón. „Die Veränderungen unter Carlos Menem waren so tiefgreifend, weil sie so gut gemacht waren. Die Privatisierungen kamen genau zur rechten Zeit!“

Drei Jahre später war Argentinien bankrott, erdrückt von den Schulden, die aufliefen, als alles Tafelsilber verhökert war. Danach machte sich der ausgebrochene Volkszorn über die Menem-Clique her. Doch einer behielt Oberwasser: der Rennbootkapitän, der stets lächelt und der, damals wie heute, seinen Sätzen gerne vier Worte anhängt: „Con fé, con esperanza!“ „Mit Glauben und Hoffnung“ preist Scioli in einem aktuellen Wahlwerbespot heute die Erfolge seiner „Chefin“ Cristina: „Die Entwicklung der nationalen Industrie, die Hilfen an jene, die uns am meisten brauchen, die Entschuldung, die Verstaatlichung der Aerolíneas Argentinas und (des Ölkonzerns) YPF, kurz: die Rückeroberung des Vaterlandes.“

Peronistenprosa, getextet für jenes Drittel der Wählerschaft, das nach wie vor auf die kühne Kirchner schwört – Zahlungsausfall hin, Wirtschaftsflaute her. Die Präsidentin hat in der Wall Street ihren Wunschgegner gefunden, dem sie die Schuld anlastet an all dem, was in ihrem Land gerade nicht funktioniert.

Seit vier Jahren wächst die Wirtschaft nicht mehr, allein der Staat schafft Arbeitsplätze, und die Notenpresse kommt nicht nach. 25 Prozent Inflation, sieben Prozent Budgetdefizit stehen 2015 zu Buche. Seit 2007 haben sich die Staatsausgaben in Dollar vervierfacht. Die Währungsreserven sind auf zehn Milliarden Dollar gesunken, gleich niedrig wie 2003, als das Kapitel Kirchner – mit Néstor – begann.

Als Fakir in TV-Show

Jeder weiß, dass Scioli weiß, dass es so nicht weitergehen kann. Argentinien braucht frische Devisen. Doch damit ausländische Konzerne – und inländische Reiche – ihre Dollars in der Pampa anlegen, müssen die Währungskontrollen aufgehoben werden. Der Peso soll billiger werden, nachdem Brasilien um mehr als 50 Prozent abwertete. Und, das ist Programmpunkt Nummer eins: Argentinien muss das Geier-Schauspiel beenden. Zum Graus der Präsidentin schickte Scioli längst Emissäre nach New York.

Kirchner, die früh wusste von Sciolis Ehrgeiz, hat ihren „Parteifreund“ jahrelang gepiesackt. Sie enthielt seiner Provinz Steuerzuweisungen vor, das Staats-TV blendete ihn gar systematisch aus. Die Argentinier konnten all das miterleben, Satireshows zeigten Scioli als Fakir, 2013 war er kurz davor, gemeinsam mit Sergio Massa Kirchners Siegesfront zu verlassen. Nun ist der ehemalige Kabinettschef Massa, erst 42, beredt und noch opportunistischer als Scioli, der dritte Präsidentschaftskandidat. Er liegt bei etwas über 20 Prozent. Das dürfte kaum reichen für die Stichwahl. Aber womöglich kann er Scioli den Sieg vermasseln.

AUF EINEN BLICK

Wahl. Am 25. Oktober wählt Argentinien einen neuen Präsidenten – seit 2003 stehen die Kirchners dem Land vor, zunächst Néstor (2003–2007), anschließend seine Frau Cristina Fernández de Kirchner (2007–2011). Nach zwei Amtsperioden kann sie nicht mehr antreten. In den Umfragen führt der Peronist und ehemalige Motorsportler Daniel Scioli, der derzeit Gouverneur der Provinz Buenos Aires ist. Parteikollege Sergio Massa kandidiert ebenfalls und könnte ihm den Sieg vermasseln.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.10.2015)

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