Kemal Kılıçdaroğlu ist Chef der größten türkischen Oppositionspartei CHP. Unter seiner Ägide ist die Partei nach links gerückt. Jüngst war er auf Besuch in Wien und schaute dort bei der SPÖ vorbei.
Wien/Ankara. Deniz Baykal galt als rechter Vertreter des Parteiflügels. Als vor fünf Jahren Kemal Kılıçdaroğlu die Republikanische Volkspartei (CHP) von Baykal übernahm, setzte eine spürbare Wandlung der Parteilinie ein. Beobachter konstatieren der sozialdemokratischen CHP, die einst von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk gegründet wurde, dass sie sich erst seit der Ära Kılıçdaroğlu wirklich sozialdemokratisch nennen könne.
Der 66-jährige Alevit aus der traditionell linken Provinz Tunceli konnte die CHP als Gegenpol zur regierenden konservativen AKP profilieren und äußerte sich auch zu heiklen Themen wie dem Umgang mit Kurden in der Vergangenheit; zuvor mied die nationalistisch geprägte CHP Minderheitenfragen eher.
Vor Kurzem war Kılıçdaroğlu in Wien und traf Sozialminister Rudolf Hundstorfer (SPÖ) sowie SP-Bundesgeschäftsführer Gerhard Schmid. Großes Thema sei freilich die Bewältigung der Flüchtlingskrise gewesen, so Kılıçdaroğlu zur „Presse“. „Wir haben gesagt, dass die Türkei 2,3 Millionen Flüchtlinge aus Syrien beherbergt und damit eine wichtige Aufgabe erfüllt. Aber Europa blieb, als die Flüchtlinge in die Türkei kamen, stumm. Erst als sie vor den Toren Europas standen, wurde das Problem bemerkt.“
„Flüchtlinge wollen höhere Standards“
Den Exodus gen Europa begründet Kılıçdaroğlu damit, dass die Betroffenen „in Ländern mit höheren Standards“ leben wollten und bereit seien, den gefährlichen Weg auf sich zu nehmen. Mauern und Grenzen würden sie nicht aufhalten. Eine nachhaltige Lösung sieht er nur in Syrien: Da müssten stabile Verhältnisse geschaffen, die Infrastruktur neu errichtet werden, damit die Flüchtlinge raschestmöglich zurückkehren können. Im Gegensatz zur AKP sieht Kılıçdaroğlu eine Syrien-Lösung ohne Einbindung von Präsident Bashar al-Assad als kaum möglich: „Das wissen auch die USA und Europa.“
Innenpolitisch sieht der 66-Jährige seine Partei „als einzigen Garanten für nachhaltigen Frieden“. Das Ergebnis der Parlamentswahl von 2011 (26 Prozent) konnte Kılıçdaroğlu bei der Wahl im Juni fast halten (25%). Bei der Neuwahl am Sonntag hofft er auf Stimmenzuwächse, was seine Position bei Koalitionsverhandlungen stärken würde.
Der prokurdischen HDP steht die CHP grundsätzlich freundlich gegenüber – auch das war früher nicht selbstverständlich. Die – durchaus scharf artikulierte – Opposition zur AKP hat sie in vielen Punkten einander nähergebracht, zudem haben beide Parteien bei dem jüngsten Anschlag in Ankara am 10. Oktober mit 102 Toten eigene Opfer zu beklagen. Für den Anschlag während einer Friedenskundgebung wird der sogenannte Islamische Staat (IS) verantwortlich gemacht.
Für die Eskalation im Südosten des Landes macht der CHP-Chef gleichsam die AKP und die verbotene kurdische Partei PKK verantwortlich, sieht die beiden gar unter einer Decke stecken. Gezielte Provokationen seitens der Regierungspartei würden mit dem PKK-Terror einhergehen. Letztlich würde die Regierung hoffen, dass ihr die Eskalation zugutekommt. [ Reuters ]
("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.10.2015)