Abschied vom letzten Geistesmenschen der ungarischen Politik

HUNGARY POEPLE PRESIDENT FUNERAL
HUNGARY POEPLE PRESIDENT FUNERALAPA/EPA/SZILARD KOSZTICSAK
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Analyse. Das Land gab dem Dichterpräsidenten Árpád Göncz das letzte Geleit. Das heutige Ungarn hat weniger Geist – und mehr Juristen.

Budapest. Er blieb bis zuletzt der Mann, als der er ins Leben startete: einer aus dem Volk. „Árpi Bácsi“, Onkel Árpi nannten ihn die Menschen auch dann, als er schon Staatschef war – zehn lange Jahre lang, 1990 bis 2000. Árpád Göncz, Arbeiter, Häftling, Ingenieur, Schriftsteller, Literatur-Übersetzer, Ungarns erster gewählter Staatspräsident, wurde am Freitag beigesetzt.

Nicht wie es ihm zustünde mit einem Staatsbegräbnis im Nemzeti Sírkert, dem Friedhof für herausragende Persönlichkeiten des Landes. Sondern im abgelegenen Budapester Stadtteil Óbuda, wo er gelebt hatte. In seinem Testament hatte er es so bestimmt. Und auch, dass kein Politiker Reden schwingen solle – sondern nur sein alter Freund Imre Mécs, der nach dem Aufstand 1956 sechs Jahre mit Göncz in diversen Gefängnissen verbrachte.

Das Volk aber war willkommen. Hunderte kamen zum Begräbnis, so abgelegen der Ort auch war.

Es war ein bewusster Bruch mit dem nationalen Pomp, wie er von der gegenwärtigen Fidesz-Regierung gepflegt wird. Dennoch konnten und wollten Ministerpräsident Viktor Orbán, Staatspräsident János Áder und diverse Minister nicht fernbleiben. Sie kamen als „Privatleute“. Es kamen auch Ex-Staatspräsidenten von nah und fern, die einst mit Göncz das Gesicht Südosteuropas geprägt hatten: Stipe Mesić aus Kroatien, der Rumäne Emil Constantinescu und andere.

Ein stilles, kurzes, bewegendes Begräbnis, mit den ihrer Funktion entblößten Staatsführern. Ein wenig war es ein Abschied des neuen Ungarn vom alten, das Göncz verkörperte. Seine Generation der Dissidenten stirbt aus, nichts Vergleichbares wächst nach. Es ist die Generation, die nach der Wende Osteuropas Dichterpräsidenten hervorbrachte: Menschen, die gelitten hatten, Gefängnis oder Verbannung erduldeten, und daran geistig groß wurden. Menschen wie Václav Havel in Tschechien oder Schelju Schelew in Bulgarien. Sie gingen Göncz längst voran in die ewige Ruhe. Er war der Letzte von ihnen.

Das Ungarn der Geistesmenschen und Charaktere verabschiedet sich mit ihm aus der Politik. Was bleibt, sind vor allem Juristen und Karrieristen, die Macht und Geld im Blick haben und alles sind, nur nicht „solche aus dem Volk“. Das gilt besonders für die Regierung: Niemand dort kann von sich sagen, er habe das Schicksal der Geschlagenen seiner Zeit gelebt, als erwachsener Mensch Armut und Hoffnungslosigkeit durchgemacht. Keiner der heutigen Politiker gibt den Menschen das Gefühl, mit ihnen in einem Boot zu sitzen.

Noch krasser ist der Wandel bei den Linksliberalen, zu denen Göncz zählte. Bei ihnen sind fast nur noch glatte, oft inkompetente Taktiker zu finden, die mit leeren Schlagworten am Volk vorbeireden. „Das ist die eigentliche Tragik der Opposition“, meint ein führender Talkshow-Moderator. „Die Linken haben die Fähigkeit verloren, Intellektuelle anzuziehen.“ Aber vor allem die Fähigkeit, wie Göncz die einfachen Menschen anzusprechen.

Als junger Mann hatte er sich in der Zwischenkriegszeit zu den konservativen Sozialreformern hingezogen gefühlt, nach dem Weltkrieg engagierte er sich bei der katholischen Kleinlandwirtepartei. Beim ungarischen Volksaufstand 1956 folgte er dem kommunistischen Reformer Imre Nagy, der dann Ministerpräsident wurde – und dafür später hingerichtet. Göncz kam mit einer schweren Gefängnisstrafe davon. Erst 1963 wurde er begnadigt. In der Haft perfektionierte er sein Englisch, begann nach seiner Entlassung, Bücher zu übersetzen (und selbst zu schreiben). Die Ungarn verdankten es ihm, dass sie unter anderem Faulkners „Absalom, Absalom!“ und Tolkiens „Herr der Ringe“ lesen konnten.

Zur Wendezeit wandelte sich seine Weltsicht, er wurde liberal.

Nichts verbindet mehr

Die letzte Ehre für ihn begann mit Worten, die er einst gesprochen hatte, als er 1990 Präsident wurde. Er habe das Glück gehabt, das Leben der einfachen Menschen zu leben, und wolle der Präsident aller sein. Das war er auch, alle liebten ihn dafür, quer durch die Parteien.

Er war linksliberal, und dennoch hatte ihn der damalige konservative Ministerpräsident József Antall zum Staatschef gemacht. Auch Antall war ein Mann, der Schicksal durchlebte. Das verbindet. Heute verbindet Ungarns politische Klasse – nichts. Gesten wie diese gibt es nicht mehr.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.11.2015)

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