London, Paris und Istanbul: Die Macht der Bürgermeister

London Mayor Johnson takes part in a tug of war with members of the armed services to launch the London Poppy Day, outside City Hall, in London
London Mayor Johnson takes part in a tug of war with members of the armed services to launch the London Poppy Day, outside City Hall, in London(c) REUTERS (STEFAN WERMUTH)
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Schillernd wie in London, umweltaktiv wie in Paris, sozial engagiert und weiblich wie in Madrid und Barcelona, sultanhaft mächtig wie in Istanbul. Ein Rundblick über Europa.

Starke politische Führer auf lokaler und regionaler Ebene sind im zentralistischen Großbritannien die Ausnahme. London hatte bis zur Wahl Ken Livingstones 2000 gar keine Bürgermeister, und dass er und sein Nachfolger, Boris Johnson, zu landesweiten politischen Größen wurden, haben sie primär ihrem Charisma zu verdanken.

Johnson, der im Mai sein Amt abgeben wird, verwaltet als Bürgermeister ein Budget von umgerechnet ca. 21 Milliarden Euro, wovon mehr als zehn Milliarden in den öffentlichen Verkehr gehen. Die geringen Kompetenzen kompensiert Johnson mit rhetorischer Brillanz und enormer Selbstdarstellung. Kaum ein Thema, zu dem der 51-jährige Konservative mit dem wirren blonden Haar nichts zu sagen hat, kaum eine Gelegenheit, die er nicht zu einem Auftritt nutzt. Dabei gibt er sich wirtschaftlich und sozialpolitisch liberal, doch zugleich wertkonservativ. Der EU steht der ehemalige Brüssel-Korrespondent mehr als kritisch gegenüber. Vor allem aber versucht er, mit seinen oft bombastischen Stellungnahmen, die er mit lateinischen Zitaten würzt, amüsant zu sein, oft um (fast) jeden Preis: Konservativen Wählern versprach er einst besseren Sex und größere Autos.

Neues Ziel: Downing Street 10

Hinter dem Drang zu unterhalten, den die Brit-Medien nähren, steckt ein scharfer Verstand. Längst bastelt Johnson am nächsten Karriereschritt. Bei der Unterhauswahl im Mai kehrte er ins Parlament zurück, und seine unausgesprochene, doch offensichtliche Ambition ist es, Premier David Cameron zu beerben. Den habe er in der gemeinsamen Studienzeit in Oxford „gar nicht bemerkt“, sagte er einmal. Cameron wieder herrscht den freimütigen Johnson im Wahlkampf per SMS an: „Halt den Mund, oder wir verlieren die Wahl.“

In Erinnerung wird Johnson vor allem als schillernde Figur bleiben. Von seinem Wirken werden Radwege und „Boris Bikes“ zeugen. Sie sind ein Symbol für den Vorrang des Marketings in der Metropole, für die Johnson vor allem der „first Werbeträger“ war.


• In Paris hat die Sozialistin Anne Hidalgo(56) das schmucke Rathaus vor anderthalb Jahren in einem Frauenduell erobert. Damals hieß es, sie verdanke den Sieg über die konservative Gegnerin weniger der eigenen Ausstrahlung als der positiven Bilanz, die ihr Vorgänger Bertrand Delanoë hinterlassen hatte. Die Pariser schätzten es, dass unter dessen rot-grüner Regierung die Stadt fahrrad- und fußgängerfreundlicher geworden war. Das Thema Umwelt ist auch für Hidalgo eine Priorität; sie zögert nicht, sich mit einer prominenteren Parteikollegin, Ex-Präsidentschaftskandidatin und Umweltministerin Ségolène Royal, anzulegen, um von der Regierung strengeres Vorgehen bei der Regulierung des Autoverkehrs zu fordern, wenn die Luftverschmutzung Alarmgrenzen erreicht.

Inzwischen hat sie sich im Feld Umweltschutz nicht zuletzt dank eifriger Kooperation mit anderen Kapitalen einen Namen gemacht. Wie dieser andeutet, stammt sie aus Spanien. Die dunkelhaarige „Ana Maria“ Hidalgo wurde in San Fernando bei Cádiz in Andalusien geboren und kam mit ihren Eltern und ihrer Schwester als Zweijährige 1961 nach Lyon. Die französische Staatsbürgerschaft hat sie (zusätzlich zur spanischen) seit 1973. Sie ist Immigrantenkind und steht dazu. Bei keinem Wahlauftritt versäumte sie es, sich speziell an die vielen Pariser mit fremden Wurzeln zu wenden. Da sie ihre Karriere Strebsamkeit und Engagement verdankt, sieht sie sich als erfolgreiches Integrationsmodell. Auch definiert sie Paris als „offene Weltstadt“; wenn aber illegale Einwanderer oder Flüchtlinge am Stadtrand campieren oder ehemalige Schulen besetzen, hat auch ihre Gastfreundschaft Grenzen.

Da sie offenbar meint, die Stadt habe etwas an Glamour verloren, unterstützt sie die Doppelkandidatur für die Sommer-Olympiade 2024 und die Weltausstellung 2025.

• Spaniens Metropolen Madrid und Barcelona sind seit Juni in der Hand resoluter Revolutionärinnen: Ex-Richterin Manuela Carmena ist Madrids scharfzüngige Bürgermeisterin. Ihre ebenfalls wenig diplomatische Kollegin Ada Colau, einst Hausbesetzerin, beherrscht Barcelona. Beide beendeten die jahrzehntelange Dominanz großer Parteien und können ein Bilderbuch-Curriculum als „Pasionaria“ vorweisen: Die 71-jährige Herrin Madrids war in ihrer Jugend im kommunistischen Anti-Franco-Widerstand; später, als Richterin, schätzte und fürchtete man sie ob ihrer Unbestechlichkeit. Die Ex-Philosophiestudentin Colau (41) agitierte gegen die Kriege im Irak und in Afghanistan, später für die vielen Spanier, die von Zwangsräumungen betroffen waren. Das machte sie zur Heldin.

Empörte Frauen

Beide Frauen waren „Empörte“: Mitglieder der 2011 gegründeten „Indignado“-Protestbewegung, die sich gegen die Sparpolitik richtet. Sie geben sich als Gegenmodell zur „Kaste der Parteien“, legen auf Unabhängigkeit Wert. Bei den Bürgermeisterwahlen traten sie als „Kandidatinnen der Zivilgesellschaft“ an, wurden aber von der linken Podemos unterstützt. Im hart von der Krise getroffenen Spanien, wo ein Schmiergeldskandal dem anderen folgt, stießen sie auf offene Ohren: Sie fordern soziale Gerechtigkeit, wollen Zwangsräumungen stoppen, Strompreise senken. Vor allem aber versprechen sie, Korruption erbarmungslos zu bekämpfen.

Wie radikal die Pasionarias ihre Städte verändern werden, wird sich zeigen. Einige Zwangsräumungen stoppten sie. Andere groß angekündigte Projekte wurden schon von den Stadtparlamenten blockiert: etwa die Senkung der Bürgermeistergehälter auf die angekündigten 2200 Euro im Monat.

• Dass die Herrscher Istanbuls/Konstantinopels hier schon immer an den Schalthebeln der Macht saßen, brachte nicht zuletzt die geografische Lage mit sich. Vor 50 Jahren war die Stadt am Bosporus, das kulturelle und ökonomische Zentrum des Landes, noch so groß wie Wien, heute leben hier 14 Millionen Menschen – 20 Prozent der türkischen Bevölkerung. Der Bürgermeister ist somit ein innenpolitisches Schwergewicht. Und seit zwei Jahrzehnten stehen konservative Politiker der Stadt vor. Das Sprichwort „Wer Istanbul regiert, regiert die Türkei“ scheint maßgeschneidert für den aktuellen Präsidenten, Recep Tayyip Erdoğan, der seine Karriere 1994 als Bürgermeister Istanbuls begann (bis 1998).

Unter ihm wurde der religiöse Teil der Stadt selbstbewusster, die Verwaltung effizienter, das Stadtbild moderner. Auch als Premier mischte er mit, wenn es um Bauprojekte in der Stadt ging. Man denke nur an die Proteste rund um den Gezi-Park, der einem Einkaufszentrum weichen sollte. Das kann sich Erdoğan leisten, weil mit Kadir Topbaş ein loyaler Parteifreund seit über zehn Jahren Bürgermeister ist. Selbst bei der Wahl 2014, nach den Gezi-Protesten, wurde Topbaş mit knapp 48 Prozent wiedergewählt.

So wichtig Istanbul stets war, es war Erdoğan, der der Stadt noch mehr Gewicht gab. Seine Rückbesinnung auf die Osmanen und deren Hauptstadt war sicher ein Faktor, aber auch sein Ziel, Istanbul als Symbol des ökonomischen Aufstiegs neu und besser zu erfinden. Die Städter klagen zwar, da ein Großprojekt das andere jagt, aber die säkular-kemalistische Opposition, die ebenfalls in Istanbul fest verankert ist, hat einfach kein Zugpferd.

LEXIKON

Auf der Liste der Städte Europas mit mehr als 500.000 Bewohnern und ohne Einrechnung selbstständiger Vororte liegt Istanbul mit etwa 14,1 Millionen Bewohnern auf Platz eins. Die Stadt liegt zwar in Kleinasien, wird aber dennoch in der Liste geführt. Auf Rang 2 ist Moskau (ca. 12,2 Mio.), auf Rang 3 London (8,5 Mio.), gefolgt von Sankt Petersburg (5,2 Mio.) und Berlin (3,5 Mio.). Wienliegt immerhin auf Platz zwölf (1,8 Mio.), Schlusslicht ist Nürnberg (501.000 Bewohner, Rang 97).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.11.2015)

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