Der Feind im Inneren: Die Jihadisten in den Vorstädten Frankreichs

FRANCE BANLIEUES RIOTS FIRST ANNIVERSARY
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Einer der identifizierten Attentäter ist Franzose algerischer Abstammung: ein Kleinkrimineller, der in den ärmlichen Banlieues von Paris aufgewachsen ist.

Paris. Nahezu „professionell kaltblütig“ seien die Terroristen gewesen, die ohne Zögern und fast minutiös genau darauf achteten, während des Massakers in Paris am Freitagabend so viele Menschen wie möglich zu ermorden: Das erwähnte der Pariser Staatsanwalt François Molins bei seiner Pressekonferenz am Samstagabend. Und auch die Augenzeugen im Bataclan beschreiben die unvermummten Killer als junge, ja, fast jugendlich aussehende Männer, die völlig ruhig geblieben seien und mehrmals ihre Waffen nachgeladen hätten.

Kleinkrimineller mit IS-Ausbildung

Einer von ihnen wurde dank der Gerichtsmedizin bereits zweifelsfrei identifiziert: Ismaël Omar M., ein 29-jähriger Franzose algerischer Abstammung. Der junge Familienvater war in Courcouronnes, einem ärmlichen Vorort im Süden von Paris, aufgewachsen, lebte aber zuletzt in Chartres, wo einer seiner Brüder eine Shisha-Bar betreibt. Er ist der Polizei bekannt: Zwischen 2004 und 2010 war er achtmal wegen diverser Delikte verurteilt worden, saß aber nie im Gefängnis. Aufgefallen ist er zuletzt wegen seiner Radikalisierung; von 2013 bis 2014 war er in Syrien. Dort wurde er vermutlich in einem IS-Lager zum Terroristen ausgebildet.

Der Mann ist also in Frankreich aufgewachsen, in einer der degradierten Vorstädte. Und so wecken die Ermittlungen zu seinem Hintergrund Erinnerungen an das Jahr 2005, als Frankreich von einer anderen Welle der Gewalt in seinen Grundfesten und seiner Selbstsicherheit erschüttert wurde. Damals, im November 2005, löste der Tod von zwei von der Polizei verfolgten Jugendlichen gewaltsame Unruhen aus, die innert weniger Tage die Vorortesiedlungen des ganzen Landes erfassten. Mehr als 10.000 Autos, aber auch Schulen sowie soziale und kulturelle Einrichtungen gingen in Flammen auf.

Die Öffentlichkeit war schockiert von dieser blinden Gewalt. Trotzdem glaubte man damals auch, verstanden zu haben, dass diese Revolte eine Botschaft enthielt: Ein Teil der französischen Jugend in diesen vor allem von Migranten bewohnten Vierteln fühlte sich ausgeschlossen von der Wohlstandsgesellschaft. Die damalige Regierung versprach alles Mögliche: Einige Fassaden wurden renoviert, aber sonst veränderte sich nicht viel in den französischen Vorstädten.

Ein Jahrzehnt später richten die Kinder dieser Banlieue ihre Gewalt nicht mehr gegen Sachen oder gegen den Staat und seine Symbole, sondern gegen die Gesellschaft und ihre Bewohner. Der Jihad scheint einer kleinen Minderheit von religiös fanatisierten Jungen ein ideologisches Ziel zu geben. Aus keinem anderen Land in Europa kommen so viele Kämpfer nach Syrien und in den Irak wie aus Frankreich. Man schätzt, dass derzeit mehr als 1500 für die Terrororganisation kämpfen und morden. Längst ist auch den Behörden klar, dass ein Teil dieser Söldner nach ihrer Heimkehr eine wahre Zeitbombe darstellen.

Paris, der Hort des Lasters

Im Fall des identifizierten Terroristen Ismaël M. ist bekannt geworden, dass er mehrere Monate in Syrien war. Ähnliche Erfahrungen brachte auch einer der beiden Kouachi-Brüder mit, die in der Redaktion von „Charlie Hebdo“ ein Blutbad verübten. Die Registrierung und, wenn materiell möglich, die Überwachung dieser äußerst gefährlichen Mitbürger reichen nicht. Allein auf der Liste der radikalisierten Islamisten in Frankreich stehen mehr als 4000 Namen. Solange man ihnen kein Verbrechen oder Delikt nachweisen kann, sind der Justiz die Hände gebunden.

Für den IS aber ist Frankreich in doppelter Hinsicht ein bevorzugter Hauptfeind. Nicht nur greift Frankreich in Syrien und im Irak IS-Stellungen an und interveniert auch in Afrika gegen mit dem IS verbündete Jihadisten. Paris ist für die Terrormiliz der Hort des Lasters schlechthin. Der als Anti-Kreuzzug bezeichnete Krieg gegen die „Gottlosen“ ist darum nicht nur eine Rache für Bombardements in Syrien, sondern auch eine Art Reinigung von allen Übeln in der Welt, ein Gottesdienst, der selbst die Aufopferung des Lebens rechtfertigen soll.

Was uns total absurd, barbarisch und unverständlich vorkommt, scheint für Junge am Rande der Gesellschaft einen Sinn zu ergeben. Mit dramatischer Verspätung hat man in Frankreich begriffen, dass man sich mit der Ideologie der Jihadisten auseinandersetzen muss, um diese zu bekämpfen und um zu verhindern, dass die Vorstädte zu einer Basis von IS-Sympathisanten werden.

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.11.2015)

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