Der langjährige französische Geheimdienstmitarbeiter und Terrorexperte Claude Moniquet befürchtet weitere IS-Anschläge in Europa.
Die Presse: Die Gruppe hinter den Angriffen in Paris war weitaus größer als ursprünglich angenommen. Überrascht Sie das?
Claude Moniquet: Überraschend ist das nicht, aber erschreckend: Offensichtlich war eine ganze Reihe aufeinanderfolgender Anschläge in Paris geplant. Und wir sind noch lang nicht am Ende der Ermittlungen: Anfangs ging man von acht Attentätern aus – inzwischen sind wir bei 18. Es könnten schnell 25 Personen werden.
Sie selbst warnten vor weiteren Anschlägen in ganz Europa. Könnten Sie das spezifizieren?
Es ist gefährlich, konkretere Antworten zu geben. Wir können aber sagen, dass ganz Europa ein Ziel ist – und der IS klare Prioritäten hat: Hauptziel ist Frankreich, dicht gefolgt von Großbritannien. Dann alle anderen Länder, die Teil der Anti-IS-Koalition im Irak und in Syrien sind. Schließlich Staaten, die zwar nicht im Irak und Syrien kämpfen, aber Heimat einer jihadistischen Community sind.
Wieso Franzosen und Briten?
Der IS betont, dass sich Frankreich „seit Jahrzehnten im Krieg gegen den Islam“ befindet. Großbritannien hingegen ist der „Statthalter der USA in Europa“: Ein Anschlag auf die Briten käme in der perversen Jihadisten-Werteskala einem Anschlag auf die USA gleich.
Haben Sie Informationen über konkrete Anschlagspläne?
Ja, aber ich werde nichts dazu sagen.
Kann man ein Profil des europäischen Jihadisten erstellen?
Ich nenne sie Neo-Jihadisten: Viele – aber nicht alle – teilen einen ähnlichen familiären Hintergrund: Junge Migranten zweiter oder dritter Generation, mit Justizproblemen, die in desolaten Vorstädten aufwuchsen und so weiter. Zentral ist: Diese Form des Jihadismus ist kein importierter, sondern ein einheimischer Terror, der von außen beeinflusst wird.
Wie unterscheidet er sich von seinem Vorgänger, dem al-Qaida-Terrorismus in Europa?
Es ist etwas ganz anderes. In erster Linie wegen dessen Dimension: Vor zehn Jahren gab es in Europa vielleicht 500 al-Qaida-Sympathisanten, heute müssen wir von bis zu 10.000 IS-Anhängern ausgehen. Auch das Profil des Terroristen hat sich verändert: Der al-Qaida-Fanatiker kam meist aus einer reichen Familie, er wurde aus ideologischen, religiösen Gründen radikalisiert. Der IS-Anhänger radikalisiert sich meist aus sozialen, persönlichen Gründen: Er will seinem Leben einen Sinn geben. Der IS-Fanatismus ist viel persönlicher und daher umso schwerer fassbar.
Was bedeutet das für den Antiterrorkampf?
Mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln ist er kaum zu bewältigen – allein wegen der enormen Anzahl an IS-Anhängern. Deshalb macht Frankreich jetzt das Richtige, wenn es Verdächtige unter Hausarrest stellen will und Fußfesseln für Jihadisten fordert. Wir werden mit strengeren Gesetzen leben, zumindest für eine gewisse Zeit. Das müssen wir akzeptieren. Es ist die einzige Möglichkeit, um uns zu schützen.
ZUR PERSON
Claude Moniquet arbeitete jahrelang für den französischen Geheimdienst. Der französische Experte gründete später in Brüssel den Thinktank ESISC, der sich mit Sicherheitsfragen befasst.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.11.2015)