Immer mehr EU-Länder wollen Flüchtlingswelle eindämmen

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Angst vor Terrorismus, Überlastung und innenpolitische Probleme führen zu einem Umdenken in den Zielländern. Wie die Beschränkung funktionieren soll, ist aber offen.

Paris/Berlin/Kopenhagen. Der Flüchtlingsstrom in Richtung Norden hat sich in den vergangenen Tagen zwar reduziert, weil Mazedonien versucht, Wirtschaftsflüchtlinge zurückzuschicken. Von Deutschland über Frankreich bis Schweden werden dennoch politische Appelle zur Beschränkung der Zuwanderung lauter. Mit ein Grund ist, dass Experten trotz der Beschränkungen auf der Balkanroute vorerst nicht mit weniger Flüchtlingen rechnen. Der Stopp für Personen, die nicht aus den Kriegsgebieten von Syrien, Afghanistan oder dem Irak kommen, dürfte eher zu einem Rückstau in Griechenland führen, von wo diese Menschen versuchen werden, auf anderen Wegen in den Norden weiterzureisen.


Frankreich. Noch in der vergangenen Woche, unmittelbar nach den Anschlägen in Paris, hatte Frankreichs Staatspräsident, François Hollande, die Aufnahme von 30.000 Flüchtlingen angekündigt. Nun ruderte sein Premierminister, Manuel Valls, zurück. Im Gespräch mit einer Runde von Korrespondenten forderte er eine Beschränkung des Zustroms. Wie die „Süddeutsche Zeitung“ berichtet hat, soll er argumentiert haben: „Wir können nicht noch mehr Flüchtlinge in Europa aufnehmen“. Dies würde die EU zerstören. „Wenn wir das nicht tun, dann werden die Völker sagen: Schluss mit Europa.“ Am Mittwoch ruderte Valls zurück. Sein Büro sprach von einem Übersetzungsfehler. Er habe lediglich gesagt, dass Europa „nicht mehr so viele Flüchtlinge“ aufnehmen könne. Der französische Premier sprach auch das Problem der mangelhaften Grenzkontrollen an. Mindestens zwei der Terroristen vom 13. November sollen als Flüchtlinge getarnt nach Paris gereist sein. Die EU, so Valls, müsse mit Syriens Nachbarländern Türkei, Libanon und Jordanien Lösungen finden.


Deutschland. Die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel sorgte in den letzten Wochen und Monaten bekanntlich für zahlreiche Irritationen auch in den Reihen der Unionsfraktion – von einer Abkehr der „Willkommenskultur“ will die deutsche Kanzlerin dennoch nichts wissen. „Die simple Abschottung wird das Problem nicht lösen“, stellte sie am gestrigen Mittwoch im deutschen Bundestag abermals klar. Inzwischen räumt aber auch Merkel ein, dass es „legale Kontingente“ geben müsse, die europaweit zu vereinbaren seien – und hat das klare Ziel genannt, „die Zahl der bei uns ankommenden Flüchtlinge zu reduzieren“. Auch die Bemühungen auf internationaler Ebene – dazu zählt etwa der geplante Aktionsplan mit der Türkei (siehe Artikel links) – seien darauf ausgerichtet, dass künftig weniger Menschen in die EU kommen. Asylwerber ohne Bleiberecht müssten Deutschland ohnehin wieder verlassen. Ein permanenter, verbindlicher Verteilungsmechanismus für Schutzsuchende auf alle EU-Mitgliedstaaten sei dennoch unverzichtbar, so Merkel – die sogar den Erhalt des Schengen-Raums an diese Forderung geknüpft hat. Derzeit haben zahlreiche Länder wieder Grenzkontrollen eingeführt, um den Flüchtlingszustrom in geordnete Bahnen zu lenken. Neben der Reduktion der Zuwandererzahlen hält sich in Deutschland aber auch die politische Forderung nach einer Änderung des deutschen Asylrechts hartnäckig. So bezeichnete EU-Kommissar Günther Oettinger (CDU) das Asylrecht am gestrigen Mittwoch im „Handelsblatt“ als Magnet für Flüchtlinge und brachte eine Neuordnung des Systems ins Spiel. Die Zuwanderung nach Deutschland lasse sich dauerhaft nur drosseln, wenn es weniger Anreize gebe, so Oettinger.

Schweden. Kein Land in Europa war Flüchtlingen gegenüber bisher so großzügig wie Schweden. Angesichts des drastischen Anstiegs von Asylbewerbern – allein in den letzten zwei Monaten waren es etwa 80.000 – zog die rot-grüne Regierung in Stockholm nun allerdings die Notbremse. Das Land würde nur noch dem europäischen Minimalniveau zur Asylpolitik folgen können, hieß es aus Stockholm. Praktisch soll der Zuzug von „papierlosen“ Flüchtlingen ohne Pass größtenteils durch Passkontrollen auf Fähren, Bussen und Zügen nach Schweden unterbunden werden. Statt lebenslanger Aufenthaltsgenehmigungen soll es nur noch befristete geben. Der Familiennachzug wird stark begrenzt. Der bürgerlichen Opposition geht das nicht weit genug. Sie will die Grenzen völlig schließen und Flüchtlinge zurück in sichere Drittstaaten schicken. Diese von Sozialdemokraten angeblich befürwortete Variante sollen die Grünen mit der Drohung eines Koalitionsbruchs vorerst verhindert haben.

Norwegen. Schwedens Verschärfung der Grenzkontrollen und Asylregeln bringt auch Norwegen unter Zugzwang. Die bürgerlich-rechtspopulistische Regierung hat den Entschluss in Stockholm begrüßt. Sie kündigte an, als Reaktion die eigenen Grenzkontrollen zu verstärken, vor allem auf sämtlichen Fähren nach Norwegen. „Schweden hat seine Grenzkontrollen verschärft, deshalb ist es wichtig, dass wir auch unsere Grenzen besser kontrollieren“, so Norwegens bürgerliche Ministerpräsidentin, Erna Solberg, im norwegischen Sender TV2.

Dänemark. Auch Dänemark, das bereits eine sehr restriktive Asylpolitik hat, aber bisher Flüchtlinge etwa aus Deutschland größtenteils ungehindert nach Schweden hat weiterreisen lassen, könnte bald seine Grenzen schließen. In das Land sind allein im September und Oktober laut Polizei rund 46.000 Flüchtlinge gekommen; circa 40.000 von ihnen sind weiter nach Schweden gereist. Nun muss die betont einwanderungskritische bürgerliche Minderheitsregierung und ihre nationalistische Stützpartei Dänische Volkspartei (DF) befürchten, dass die Transitflüchtlinge in Dänemark bleiben. „Mit Schwedens strengeren Regeln riskiert Dänemark, ein Magnet für Asylsuchende in Europa zu werden“, sagte DF-Fraktionschef Peter Skaarup in Radio Dänemark (DR) und forderte sofortige Maßnahmen. Seine Partei hat großen Einfluss auf Ministerpräsident Lars Løkke Rasmussens Minderheitsregierung: Die DF hat deutlich mehr Parlamentssitze als die bürgerliche Regierungspartei Venstre. Auch die rechtsliberale Integrationsministerin, Inger Støjberg, sagte zum Beschluss aus Stockholm, dass dänische Grenzkontrollen bald verschärft werden könnten: „Ich garantiere, dass wir die Situation nun Stunde für Stunde überwachen. Mein Ziel ist es, den Zustrom von Flüchtlingen nach Dänemark zu begrenzen.“

Finnland. Finnland hat seine Asylregeln bereits verschärft. Vor allem Iraker, die nun keine Aufenthaltsgenehmigung mehr bekommen, sind in diesem Herbst immer häufiger nach Schweden oder ein anderes EU-Land zurückgekehrt. Durch Stockholms verschärfte Regeln dürfte diese Ausweichmöglichkeit nun deutlich beschränkt sein. (aga, wb, anw)

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.11.2015)

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