Abschuss: Moskau wirft Ankara "geplante Provokation" vor

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Nach dem Abschuss eines russischen Bombers wächst auch in der Türkei Kritik an der Regierung. Russland will die Türkei im Bereich Wirtschaft bestrafen.

Istanbul. Nach dem Abschuss des russischen Jets an der syrischen Grenze bemüht sich die Türkei um Schadensbegrenzung. Präsident Recep Tayyip Erdoğan bekräftigte gestern zwar, dass die Türkei im Recht gewesen sei. Sein Land habe aber kein Interesse an einer weiteren Eskalation, sondern stehe „auf der Seite von Frieden, Dialog und Diplomatie“. In der Öffentlichkeit wurde der Abschuss als überzogen kritisiert. Russlands Außenminister Sergej Lawrow sprach gar von einer „geplanten Provokation“ der türkischen Seite.

Sein türkischer Amtskollege, Mevlüt Çavuçoğlu, soll laut Lawrow in einem Telefonat sein Bedauern über den Vorfall ausgedrückt haben. Nach türkischen Angaben wollen sich Çavuçoğlu und Lawrow in den kommenden Tagen treffen. Das Gespräch könnte demnach am Rande eines OSZE-Außenministertreffens in Belgrad stattfinden. Wie Erdoğan betonte auch Premier Ahmet Davutoğlu, Russland sei ein Nachbar und Freund, mit dem man keinen Streit wolle. Moskau bleibt aber hart: Die Regierung erklärt, es gebe keinen Plan für ein Treffen. Einen für Mittwoch geplanten Türkei-Besuch hat Lawrow abgesagt. In Moskau bewarfen Demonstranten die türkische Botschaft mit Steinen.

„Gefahr für den Weltfrieden“

Neue Details stellen die türkische Darstellung infrage, der Abschuss sei unvermeidlich gewesen. Offenbar flogen die zwei Jets nur 17 Sekunden lang durch türkisches Hoheitsgebiet. Moskau dementiert allerdings, dass die Flieger in den türkischen Luftraum eingedrungen seien. Der überlebende Pilot des russischen Jets behauptete zudem, es habe vor dem Abschuss keine optische oder Funkwarnung der Türkei gegeben. Die türkische Nachrichtenagentur DHA veröffentlichte daraufhin die angeblichen Funksprüche der türkischen Piloten. Auf den Aufnahmenist die mehrmalige Warnungzu hören nach Süden abzudrehen. Angaben aus US-Regierungskreisen zufolge wurde das russische Flugzeug allerdings erst nach Durchquerung des türkischen Luftraums über Syrien abgeschossen.

Selbst in regierungsnahen Medien in der Türkei wurde Unbehagen laut. Ali Bayramoglu, Kolumnist der Erdoğan-treuen Tageszeitung „Yeni Safak“, argumentierte, die türkischen Piloten hätten auch versuchen können, die russischen Bomber abzudrängen. „Das Flugzeug abzuschießen, weil fünfminütige Warnungen ignoriert wurden, ist übertrieben und eine wenig kluge Machtdemonstration.“ Auch Mehmet Barlas, ein bekennender Erdoğan-Fan, schrieb in der Zeitung „Sabah“, Ankara und Moskau sollten ihre Beziehungen nicht unklugen Entscheidungen von Piloten opfern. Die Oppositionspresse ist ohnehin der Ansicht, der Abschuss stelle eine gefährliche Eskalation dar; „An der Schwelle des Kriegs“ titelte „Cumhuriyet“; Metin Münir, Kommentator des Nachrichtenportals T24, bezeichnete Erdoğan und die Regierung als „Gefahr für den Weltfrieden“.

Besorgt sind die Kritiker auch wegen der von Russlands Präsidenten Wladimir Putin angekündigten ernsten Konsequenzen. Die russischen Militärs schickten ein weiteres Kriegsschiff vor die Küste Syriens und erklärten, alle potenziellen Gefahrenquellen würden zerstört. Auch ein Flugabwehrsystem soll nach Syrien verlegt werden. Die Luftwaffe lässt Su-30-Flanker-Jäger Begleitschutz für ihre Bomber bei deren Einsätzen fliegen, die in Nordsyrien fortgesetzt wurden.

Berichten zufolge verlegte auf der anderen Seite die Türkei zusätzliche Panzer und Panzerhaubitzen an die syrische Grenze. Türkische Wirtschaftsvertreter warnen vor russischen Sanktionen im Energie- und Tourismusbereich. Insbesondere bei Erdgaslieferungen ist die Türkei verwundbar: Das Land bezieht 57 Prozent seines Gasbedarfs aus Russland. Alternative Bezugsquellen seien kurzfristig kaum aufzutreiben, wenn sich Putin entschließen sollte, die Lieferungen zu reduzieren oder zu stoppen, sagte ein Vertreter des türkischen Energiesektors der Zeitung „Hürriyet“. In diesem Bereich habe Russland „zu hundert Prozent die Kontrolle“.

Der Kreml prüft zudem die Stornierung gemeinsamer Projekte mit der Türkei und den Ausschluss türkischer Unternehmer vom russischen Markt. Auch die Tourismusindustrie fürchtet Einbußen. Wenn sich Lawrows Aufruf an die Russen, Urlaubsreisen in die Türkei zu meiden, zu einem Boykott auswachse, „sind wir erledigt“, wurde ein Tourismusmanager zitiert. Rund vier Mio. Russen verbringen jährlich ihre Ferien in der Türkei.

Unangenehm für Ankara ist auch, dass durch russische Kritik der Vorwurf bekräftigt wird, Ankara arbeite in Syrien mit Extremisten zusammen. Russlands Premier, Dmitrij Medwedjew sagte, türkische Behördenvertreter seien in den illegalen Ölexport des Islamischen Staates verwickelt und hätten „direkte finanzielle Interessen“ auf diesem Gebiet. Moskau verfüge über Informationen über Verbindungen zwischen Ankara und dem IS. Putin hat der Türkei zuvor vorgeworfen, durch den Kauf von Öl aus dem IS-Machtbereich den Terror zu finanzieren.

AUF EINEN BLICK

Die Türkei hat einen russischen Su-24-Bomberabgeschossen, der angeblich über türkischem Hoheitsgebiet geflogen ist. Das war einer der schwerwiegendsten Zusammenstöße zwischen einem Nato-Staat und Russland in den vergangenen 50 Jahren. Einer der beiden Piloten des Suchoi-Jets starb. Bei der Rettungsaktion für den anderen Piloten wurde auch ein russischer Marineinfanterist getötet. Ob das Flugzeug über der Türkei oder über Syrien abgeschossen wurde, ist zwischen Moskau und Ankara umstritten. In US-Regierungskreisen heißt es, der Jet sei kurz in den türkischen Luftraum eingedrungen, dann aber über Syrien getroffen worden. Die Türkei bemühte sich gestern um eine Entspannung, der Kreml aber blieb hart.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.11.2015)

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