Belgien: Ein Staat mit beschränkter Haftung

Belgian soldiers patrol along 'Winter Wonders', a Christmas market in central Brussels
Belgian soldiers patrol along 'Winter Wonders', a Christmas market in central BrusselsREUTERS
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Belgien ist kompliziert, frustrierend und unübersichtlich – aber es ist nicht gescheitert.

Der Spuk ist also vorbei. Seit Freitag gilt in Brüssel wieder die zweithöchste Terrorwarnstufe. Der Ausnahmezustand, der die Hauptstadt Belgiens – und Europas – eine knappe Woche im Griff hatte, wurde unter Vermeidung großer Gesten aufgehoben. Alle U-Bahnen verkehren wieder – zwar nur bis 22 Uhr, aber immerhin. An den Bahnhöfen herrscht Betriebsamkeit. Nur die Soldaten mit ihren tarngemusterten, bis zu den Augen hochgezogenen Halstüchern schieben an den neuralgischen Punkten der Metropole Wache. Doch schwer bewaffnete Uniformierte zählen mittlerweile nicht nur in Brüssel zum integralen Bestandteil des Stadtbildes.

Der Advent kann also beginnen, doch von der stillen Zeit im Jahr kann trotz Christbaum auf dem Grand Place im Zentrum der Brüsseler Altstadt keine Rede sein – erstens, weil die Gefahrenlage unübersichtlich und Jihadisten nach wie vor auf der Flucht sind, zweitens, weil das Königreich Belgien in der Zwischenzeit in Verruf geraten ist. Das scheinbare Versagen der belgischen Behörden bei der Bekämpfung des gewaltsamen Islamismus und der Integration der moslemischen Minderheit sorgt international für Aufsehen, spätestens seit der französische Staatschef, François Hollande, vor laufenden Kameras erklärte, die grausamen Attentate vom 13. November seien zwar in Paris verübt, aber in Belgien geplant worden – woraufhin die mediale Jagdsaison auf Belgien eröffnet wurde.

Die Bandbreite der Epitheta reichte von „Belgistan“ bis hin zum „erfolgreichsten gescheiterten Staat der Welt“; Satiriker vom britischen Magazin „Private Eye“ empfahlen den Piloten der Royal Air Force, das Brüsseler Problemviertel Molenbeek anzusteuern, anstatt im Niemandsland zwischen dem Irak und Syrien nach Gotteskriegern des sogenannten Islamischen Staats zu suchen; Politico Europe, der Brüsseler Ableger der digitalen Informationsbörse für Washingtoner Polit-Insider, schrieb in seiner marktschreierischen, mittlerweile berühmt-berüchtigten Tonlage von einem „gespaltenen, dysfunktionalen Land“; selbst die für ihre nüchterne Berichterstattung bekannte französische Tageszeitung „Le Monde“ warnte ihre belgischen Nachbarn vor der Anarchie: Sie würden Gefahr laufen, eine „nation sans État“ zu werden, ein Volk ohne Staat. Dabei sei es lange Zeit genau andersrum gewesen.

Molenbeek als Synonym. Ist Belgien also ein hoffnungsloser Fall, wie es vielerorts insinuiert wird? Haben die Behörden in Brüssel den Kampf gegen den Jihadismus verloren, noch bevor er richtig begonnen hat? Dass die Anschläge von Paris Frankreichs kleinen Nachbarn ins schiefe Licht gerückt haben, hat in der Tat eine gewisse Berechtigung. Denn im Verhältnis zur Einwohnerzahl (elf Mio.) weist Belgien mit rund 500 die europaweit höchste Zahl an islamistischen Schlachtenbummlern auf.

Dass man in Belgien relativ leicht an Pistolen und Sturmgewehre herankommen kann, ist mittlerweile ebenso bekannt wie die Tatsache, dass die belgische Hauptstadt aus 19 autonomen Kommunen und sechs einander teilweise überlappenden Polizeizonen besteht. Spätestens seit bekannt wurde, dass man im Bezirk Molenbeek im Nordwesten Brüssels über die Umtriebe der Islamisten informiert gewesen war, aber nichts unternommen hatte, gilt der Name des Quartiers als Synonym für staatliches Versagen im Angesicht des Terrors. Zwar gebe es in dem dicht bewohnten Viertel mit rund 100.000 Einwohnern neuerdings ein vierköpfiges Dezernat zur Bekämpfung der Radikalisierung, wie die „New York Times“ berichtete, von den vier Personen würde allerdings nur eine Arabisch sprechen – ein kleines Problem angesichts der Tatsache, dass knapp die Hälfte der Molenbeeker einen (hauptsächlich marokkanischen) Migrationshintergrund hat und das Viertel rund 20 Moscheen beherbergt.

An der Erkenntnis, dass die belgischen Behörden auf breiter Front versagt haben, führt wohl kein Weg vorbei. Belgiens Sicherheitsapparat ähnelt einer Buchstabensuppe aus Akronymen, das Land hat insgesamt zehn Geheimdienste bzw. Koordinationsbehörden, die teilweise miteinander konkurrieren und eifersüchtig über ihre Kompetenzen wachen: OCAD (die Zentrale für Analyse der Gefahrenlage), VSSE (Staatssicherheit), ADIV (militärischer Geheimdienst), CTIF (mit Geldwäsche und Finanzierung der Terroristen befasst), weiters die Bundespolizei, das Krisenzentrum der Regierung, einen parlamentarischen Kontrollausschuss, die Staatsanwaltschaft, den Nationalen Sicherheitsrat – sowie zu guter Letzt die Strategische Koordinationsstelle für Sicherheit, die im Juni 2015 gegründet wurde und deren Aufgabe es ist, zwischen den oben genannten Einrichtungen zu vermitteln.

Lückenlose Überwachung. Wer an dieser Stelle die Hände über dem Kopf zusammenschlägt, hat einerseits recht, macht es sich aber anderseits zu leicht. Denn die Gründung der Koordinationsstelle vor wenigen Monaten zeigt auf, dass die Entscheidungsträger in Brüssel das Problem immerhin erkannt haben. Dass die Kooperation zwischen den Behörden rasch intensiviert werden muss, ist mittlerweile unbestritten. Doch das belgische Versagen muss insofern relativiert werden, als der Umgang mit den im Fachjargon als „Gefährder“ bekannten Islamisten alles andere als einfach ist – für die lückenlose Rundumüberwachung einer einzigen Person werden nämlich geschätzte 20 bis 25 Beamte benötigt. Allein in Molenbeek waren zuletzt gut 80 Personen als potenzielle Jihadisten amtsbekannt. Ihre Beschattung hätte also den Einsatz von mindestens 1600 Beamten erfordert. Die im Zuge des „Brussels Lockdown“ durchgeführten, groß angelegten Razzien fielen zwar dürftig aus, doch gänzlich unbeholfen sind die Behörden auch nicht. Zu Jahresbeginn, kurz nach dem Anschlag auf die Redaktion der Pariser Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“, gelang ihnen ein Schlag gegen die Islamisten: Bei einem Einsatz in Verviers im Südosten des Landes starben zwei Attentäter in spe im Kugelhagel der Antiterroreinheiten. Nach offiziellen Angaben hatten die Männer Anschläge auf Polizeistationen geplant.

541 Tage ohne Regierung. Dass Belgien jetzt kritisch beäugt wird, hängt auch damit zusammen, dass hier viele Probleme, die den Westen derzeit plagen, besichtigt werden können – das Land ist sozusagen ein Kondensat Europas. Da wäre zunächst einmal die komplexe Struktur des Landes mit seinen drei Sprachgruppen (Flämisch, Französisch und Deutsch), drei Landesteilen (Flandern, Wallonien und Region Brüssel) und einem im Jahr 1831 von den europäischen Großmächten eingesetzten Königshaus, das dieses Gebilde mehr schlecht als recht zusammenhält. Die Tatsache, dass die nun wohlhabenderen Flamen im Norden des Landes den frankofonen Wallonen ihre einstige politisch-ökonomisch-soziale Vormachtstellung übel nehmen, ist sattsam bekannt. Derartige Antipathien gibt es aber auch anderswo in Europa – man denke etwa an Schottland, Katalonien oder die norditalienische Chimäre Padanien. Die Tatsache, dass Belgien mit 541 Tagen den Europarekord für eine Übergangszeit zwischen zwei Regierungen hält, zeugt einerseits von innenpolitischen Verwerfungen, beweist aber andererseits die Widerstandsfähigkeit des belgischen Staatsgebildes – eineinhalb Jahre in einem Staat mit beschränkter Haftung muss man einmal aushalten können.

Auch das Problem mit der Integration von Migranten und ihren Kindern ist nicht auf Belgien beschränkt. Zwar belegen Statistiken der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), dass sich Belgien mit den Kindern der Einwanderer besonders schwer tut – rund 60 Prozent von ihnen fühlen sich in den Schulen des Landes nicht zugehörig, und auch was die Lernerfolge anbelangt, ist die Kluft zwischen angestammten und Neo-Belgiern tief. Doch für Frankreich weist die OECD noch schlechtere Zahlen aus – nur jeder zweite Franzose mit Migrationshintergrund fühlt sich in seiner Schule gut aufgehoben. Auch die spezifisch belgische Zweiteilung des Landes dürfte mit dem Aufkeimen des Jihadismus wenig zu tun haben, obwohl es von Innenminister Jan Jambon – einem Flamen von der separatistischen Neu-Flämischen Allianz (N-VA) – behauptet wurde.

Es stimmt zwar, dass es in Antwerpen gelungen war, das Netzwerk „Sharia 4 Belgium“ auszuheben und dessen Gründer, Fouad Belkacem, zu einer Haftstrafe zu verurteilen – doch davor hatte Belkacem lange Zeit die Gelegenheit, von Flandern aus den Hass auf Andersgläubige zu predigen und Freiwillige für den Krieg in Syrien zu rekrutieren. Dies den Wallonen in die Schuhe schieben zu wollen, geht eindeutig zu weit – es zeigt allerdings die Gefahr, die von unreflektiertem Partikularismus in Krisenzeiten ausgeht. So lang Belgien außerhalb der Gefahrenzone lag, konnten kindisch anmutende Streitereien wie etwa um die Flugschneisen für den Brüsseler Flughafen, die der flämische Staatssekretär, Melchior Wathelet, im Vorfeld der Parlamentswahl 2014 kurzerhand vom flämischen Umland ins Zentrum der frankofonen Hauptstadt verlegen ließ, mit einem Schulterzucken zur Kenntnis genommen werden – „ils sont fous ces belges“, „die spinnen halt, die Belgier“, wie einst der (gallische) Comic-Held Obelix bei seinem Kurzbesuch in Belgien konstatierte. Doch in Zeiten, in denen die europäischen Grenzbalken wieder heruntergehen und die EU von Krise zu Krise stolpert, wirken derartige Petitessen wie ein Luxus aus längst vergangenen Zeiten. Lang galt Österreich als die sprichwörtliche „Versuchsstation für den Weltuntergang“, im Spätherbst 2015 scheint Belgien in diese Rolle geschlüpft zu sein: ein Staat, der mit äußeren Widrigkeiten ebenso zu ringen hat wie mit sich selbst. Gescheitert ist er deswegen aber noch lang nicht.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.11.2015)

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