„Orbán und Putin halten Europa für dekadent“

Ivan Krastev: „Die Flüchtlingskrise zeigt, dass das Europa der zwei Geschwindigkeiten längst Realität ist.“
Ivan Krastev: „Die Flüchtlingskrise zeigt, dass das Europa der zwei Geschwindigkeiten längst Realität ist.“(c) Teresa Zötl
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Politologe Ivan Krastev warnt davor, dass die Flüchtlingskrise zum Zerfall der EU führen könnte, wenn Berlin einen nationalistischen Kurs einschlägt. Ungarns Premier Orbán stuft er als zweiteinflussreichsten Politiker Europas ein.

Die Presse: Kann die Flüchtlingskrise zum Zerfall der EU führen?

Ivan Krastev: Die EU hat derzeit vier Krisen: die Russland/Ukraine-Krise, den möglichen Brexit, also den Austritt Großbritanniens, auch die Eurokrise ist nicht überstanden – Griechenland ist in der Rezession, Portugals Reformregierung abgewählt. Aber die Flüchtlingskrise ist die gefährlichste von allen: erstens, weil sie paneuropäisch ist, jedes EU-Land ist betroffen, jedes wähnt sich in einer Flüchtlingskrise, auch jene, die gar keine Flüchtlinge haben. Zudem können die Menschen die Flüchtlinge sehen, anders als die Finanzkrise. Und diese Krise führt zu einer Renationalisierung: In der Flüchtlingskrise neigen die Bürger viel mehr dazu, ihrer eigenen Regierung zu vertrauen und nicht jener in Brüssel. Und nach dem Terror von Paris wird die Flüchtlingskrise auch in ein Sicherheitsthema umformuliert.

Aber hat diese Krise das Potenzial, die EU tatsächlich aus den Angeln zu heben?

Man sollte es nicht ausschließen. Es ist paradox: Wenn jemand behauptet, der EU-Zerfall sei denkunmöglich, macht er ihn damit nur wahrscheinlicher. Denn diese Haltung verleitet zu riskanter Politik, zum Glauben, sich alles leisten zu können. US-Experten kamen noch 1990 zum Schluss, der Zerfall der Sowjetunion sei unwahrscheinlich, weil die Wirtschaften der Sowjetrepubliken so eng miteinander verflochten waren. Dieses Kosten-Nutzen-Denken der Ökonomen ist in Krisenzeiten aber nutzlos. Es kommt nicht zum Zerfall, weil ihn die Mehrheit will. Er wird unbeabsichtigt herbeigeführt, weil auf eine Krise überreagiert wird oder gar nicht. Und noch eine Lehre gibt es aus dem Zerfall der Sowjetunion: Er wird im Zentrum ausgelöst, nie an der Peripherie. Den Austritt der Balten hätte die Sowjetunion verkraftet. Als Russland sagte, es will nicht mehr, war es vorbei.

Umgelegt auf die EU würde das bedeuten, Paris oder Berlin müssten auf Distanz gehen. Halten Sie das für wahrscheinlich?

Nein, aber für möglich. Eine der größten Gefahren der Flüchtlingskrise ist, dass sie Deutschland verändert. Dieses Land ist ja nicht nur wirtschaftlich ein Ausreißer in Europa, sondern auch politisch: Deutschland hat noch sein traditionelles Parteiensystem, es gibt keine rechtsextreme Partei im Parlament, ein hohes Vertrauen in die Medien. Europäisch gesehen ist Deutschland in einer schwierigen Lage: In der Griechenland-Krise wurde Berlin mangelnde Solidarität vorgeworfen, nun heißt es, Merkel habe mit ihrem moralischen Imperialismus die Krise mitverursacht.

Wie könnte ein Szenario aussehen, in dem sich Deutschland von der EU entfernt?

Es könnte der Zeitpunkt kommen, zu dem Deutschland oder auch Frankreich sagen: Für unsere Demokratie oder unsere Wirtschaft ist es besser, die Abhängigkeiten von der EU zu verringern. Oder stellen Sie sich vor, Merkel würde erklären: Dublin gilt, wir sind nur von sicheren Staaten umgeben und nehmen daher keine Flüchtlinge mehr auf dem Landweg auf. Die Krise würde sich sofort verschärfen. Wer glaubt, dass keine Flüchtlinge mehr kommen, wenn man sich einfach an die Buchstaben der Dublin-Regel hält, war in den vergangenen Jahren nicht in Italien oder Griechenland.

Den Vorwurf des moralischen Imperialismus hört man in Mittelosteuropa. Welche Sprengkraft hat der Ost-West-Gegensatz?

Diesen Gegensatz gab es schon während des Irak-Kriegs, als das „neue Europa“ den USA in den Krieg folgte, Westeuropa nicht. Aber Osteuropa war ja zuletzt sehr deutschlandorieniert. Länder wie Polen und die baltischen Staaten wandten sich mit jedem Problem an Berlin. Auch im Ukraine-Konflikt. Sie baten Merkel um eine starke Antwort gegenüber Russland. Merkel gab ihnen aber zu verstehen: Das ist euer Problem. Das zeigt schon, dass Deutschlands Fokus längst auf Ländern der Eurozone liegt, dass wir in einem Europa der zwei Geschwindigkeiten leben. Und natürlich gibt das Verhalten Osteuropas manchen die moralische Rechtfertigung, eine generelle Abneigung gegen diese Länder nun auch kundtun zu dürfen. Dabei ist der Gegensatz zwischen West und Ost mit Blick auf die Flüchtlingskrise vergleichbar mit dem Unterschied zwischen größeren Städten in Österreich, in denen es mehr Berührungspunkte mit Ausländern gibt, und der Stimmung in ländlicheren Regionen.

Der Vorwurf gegen Osteuropa in der Flüchtlingskrise lautet: Ihr habt profitiert von EU-Geldern, jetzt, da wir Solidarität verlangen, duckt ihr euch weg. Wieso sind die Regierungen von Prag bis Budapest taub für dieses Argument?

In Mittel- und Osteuropa sehen sich die Menschen als Opfer der Geschichte, die leiden mussten, während man in Wien und Brüssel, auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs, ein schönes Leben hatte. Zugleich rühren etwa im ethnisch homogenen Polen die letzten Erfahrungen mit Multikulturalismus aus der Zwischenkriegszeit, die sehr negativ behaftet ist. Und drittens scheitern diese Länder ja schon jetzt an der Integration ihrer Roma-Minderheit. Übrigens gibt es keinen Mangel an Solidarität, sondern einen Zusammenprall von Solidarität: Die Polen etwa sind in der Flüchtlingskrise sehr solidarisch, nur nicht mit den Syrern, sondern mit ihrer eigenen ethnischen Bevölkerung. Manche kleinen Länder haben Angst, von der Landkarte zu verschwinden. Nehmen Sie Bulgarien: Die UNO prognostiziert, dass es bis 2050 rund 27 Prozent seiner Bevölkerung verliert. Eine Folge der offenen Grenzen ist ja auch: Die Jungen verlassen das Land. Zugleich sehen wir das Aufkommen einer „bedrohten Mehrheit“, wie ich das nenne. Also einer Mehrheit, die sich wie eine Minderheit verhält, weil sie glaubt, politisch nicht mitreden zu können.

Inwiefern ist Viktor Orbáns illiberale Demokratie ein ernst zu nehmender Gegenentwurf für die westlichen Demokratien?

Ich halte Orbán für den einflussreichsten Politiker in Europa nach Angela Merkel, weil er die Alternative zu Merkel ist. Und diese Alternative wurde in der Flüchtlingskrise noch einmal deutlicher attraktiver. In einer Krise ist das Gegenteil von Vertrauen nicht Misstrauen, sondern Angst. Orbán versteht das und benutzt diese Angst. Zugleich hat er ein großartiges Gespür für den Zeitgeist. Es gibt ja eine konservative Gegenreaktion in ganz Europa.

Sehen Sie schon Nachahmer?

Zwischen Polen und Ungarn gibt es starke Differenzen in der Russland-Politik. Aber die an die Macht gekommene PiS hat schon vor Jahren gesagt: „Heute Budapest, morgen Warschau.“ Orbáns Stärke liegt dabei in seiner Kritik, in der er ja mit vielem recht hat. Wir können nicht alle hereinlassen. Aber wie will er die Grenzen dichtmachen? Ist er bereit, Soldaten zu entsenden, die notfalls schießen? Und wäre es für die EU möglich, eine starke Anti-Islam-Rhetorik wie Orbán zu verfolgen und zugleich Erdoğan in der Flüchtlingskrise um Hilfe zu bitten? Der Vorteil Orbáns liegt auch darin, dass seine Politik nie ausprobiert wurde. Die Worte klingen stark.

Sie kennen Putin persönlich. Ähneln sich Orbán und er?

Beide sind hochbegabte Politiker. Und beide empfinden den Westen als wehrlos und dekadent. Der Unterschied zwischen den beiden Ländern ist: Ich kann mir vorstellen, dass Russland in einer aggressiven Selbstisolation eine Zeit lang überleben kann. Aber Ungarn? Es lebt von Geldern aus Brüssel und Auslandsinvestitionen. Zugleich sind das zwei Ziele, die Orbán rhetorisch ständig angreift. Es heißt, man kann nicht auf zwei Hochzeiten gleichzeitig tanzen. Orbán zeigt: Es geht doch.

Was treibt Russland an, in den Syrien-Krieg zu ziehen?

Russland haben nicht so sehr die Sanktionen getroffen, sondern der Fall des Ölpreises. Die russischen Führer sind überzeugt, dass die Amerikaner dahinterstecken und die Saudis dazu getrieben haben, den Ölpreis zu drücken. Die Intervention in Syrien ist nun auch ein Versuch, mit den Saudis ins Gespräch zu kommen, also Verhandlungsmasse aufzubauen. Seien Sie nicht überrascht, wenn am Ende der große Deal zu Syrien nicht zwischen den USA und Russland, sondern zwischen Russland und Saudiarabien paktiert wird.

ZUR PERSON

Ivan Krastev (geb. 1965 in Lukovit, Bulgarien) ist einer der einflussreichsten Politologen Europas. Der Osteuropa-Experte ist ein Gründungsmitglied des European Council on Foreign Relations, leitet das Centre for Liberal Strategies in Sofia und forscht unter anderem am Institut für die Wissenschaft vom Menschen in Wien.

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.12.2015)

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