Justin Trudeau, der neue liberale Premier, setzt mit seiner Flüchtlingspolitik Akzente. Er holt 25.000 Syrer, zumeist handverlesene Familien, ins Land – und hebt sich so deutlich vom großen Nachbarn, den USA, ab.
Wien/Toronto. Als Generalgouverneur David Johnston vor einer Woche im Parlament von Ottawa die Regierungserklärung des neuen liberalen Premiers verlas, hatten im Auditorium nicht nur ein aus Indien stammender Verteidigungsminister und eine 1985 in Afghanistan geborene Ministerin für Demokratiereform Platz genommen, sondern ostentativ auch der erste Schwung an syrischen Flüchtlingen, der mit Passagiermaschinen ins Land gekommen war. Zum Empfang von 163 syrischen Flüchtlingen, die mit einer kanadischen Militärmaschine in Beirut gestartet waren, erschien Justin Trudeau höchstpersönlich auf dem Flughafen von Toronto.
Hemdsärmelig und mit strahlendem Lächeln überreichte der 43-jährige, neue Poster-Boy der Politik Gastgeschenke – Teddybären, Parkas und ein Hilfspaket mit dem Logo des Ahornblatts –, ließ sich für Selfies ablichten und schüttelte den Neuankömmlingen die Hände. „Das ist ein wunderbarer Abend. Wir werden uns alle an diesen Tag erinnern“, sagte er, als er ein Wahlversprechen einlöste.
„Welcome to Canada“, der Titel des Leitartikels im „Toronto Star“, auch in arabischer Übersetzung abgedruckt, samt Tipps für den bitteren Winter und für den Nationalsport Eishockey, hallte von der Ost- bis zur Westküste durchs ganze Land, das sich – wie die USA – als eine Nation von Immigranten versteht. Kevork Jamkossian, der seine 16 Monate alte Tochter im Arm hielt, geriet geradezu ins Schwärmen: „Ich fühle mich, als wäre ich aus der Hölle geradewegs ins Paradies gekommen.“ Sie verließen den Flughafen mit einer Sozialversicherungsnummer, einer Gesundheitskarte und einer Perspektive auf die kanadische Staatsbürgerschaft.
Schwelgen in Willkommenskultur
Wie im Spätsommer Deutschland und Angela Merkel schwelgen nun auch Kanada und Trudeau in Willkommenskultur. Die Hilfs- und Aufnahmebereitschaft der Kanadier stehen in auffälligem Kontrast zur schrillen, von islamophoben Spitzen geprägten Diskussion in den USA über ein Einreiseverbot von Muslimen und zur Ablehnungsfront der Republikaner gegenüber syrischen Flüchtlingen. US-Präsident Barack Obama, der die Aufnahme von nur 10.000 Nahost-Kriegsflüchtlingen bis September 2016 in Aussicht gestellt hatte, war voll des Lobes für Trudeaus Flüchtlingspolitik.
Zu Beginn des Wahlkampfs in Kanada, als Fotos des toten, dreijährigen Aylan am Strand von Bodrum die Öffentlichkeit aufrüttelten, hatte Oppositionsführer Trudeau ein Ende der kanadischen Luftangriffe in Syrien versprochen, zugleich aber auch die Aufnahme von 25.000 handverlesenen Flüchtlingen, vor allem Familien, aus Lagern in der Türkei, im Libanon und in Jordanien. Anfangs hielt sich deren Interesse freilich in Grenzen.
Gegen den unpopulären konservativen Premier Stephen Harper errang der Sohn des Langzeitpremiers Pierre Trudeau einen Wahltriumph, und seit seinem Amtsantritt im November jagt eine Initiative die andere – von der Freigabe von Cannabis bis zum Klimaschutz. Aus Sicherheitsgründen und wegen logistischer Probleme geriet die Aufnahme von Flüchtlingen nach der Terrorserie in Paris zunächst ins Stocken. Sie kommen jetzt in zwei Wellen ins Land, für 10.000 von ihnen bürgen Verwandte und private Sponsoren.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.12.2015)