Türkei: „Manche Stadtviertel sehen aus wie in Syrien“

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TURKEY-KURDS-UNREST(c) APA/AFP/ILYAS AKENGIN (ILYAS AKENGIN)
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Der Krieg zwischen der türkischen Armee und der kurdischen Untergrundorganisation PKK eskaliert. In der Südosttürkei toben Gefechte, ganze Städte werden vom Militär abgeriegelt.

Istanbul. Zerschossene Häuserfassaden, Schutt in den Straßen, dazwischen verängstigte Menschen, die ihre Habseligkeiten aus ihren Wohnungen holen. Manche ziehen Rollkoffer hinter sich her, andere schleppen Kleidersäcke auf den Schultern. Rauchsäulen steigen über den Häusern auf. Ein ganzer Treck von mehreren tausend Zivilisten verlässt die Stadt. Die Szenen erinnern an Syrien, doch sie spielen sich derzeit im kurdischen Südosten der Türkei ab.

Straßen und Wohnviertel in Städten wie Diyarbakir und Cizre sind Schauplätze des neuen Kurdenkriegs, der die zu Jahresbeginn noch vorherrschende Hoffnung auf Frieden endgültig hinwegfegt. Kurdische Städte werden zu Schlachtfeldern, weil die kurdische Untergrundorganisation PKK und die türkischen Sicherheitskräfte dort einen Machtkampf austragen. Nach dem Kollaps des Friedensprozesses im Sommer hat die PKK in Südostanatolien einseitig Autonomiezonen ausgerufen, in denen nur noch ihre eigenen Gesetze gelten sollen. PKK-„Gerichte“ bestrafen angebliche Kollaborateure, PKK-Kämpfer errichten in den Städten Barrikaden, um Polizei und Armee auszusperren.

Der Staat antwortet mit militärischem Druck. Dutzendfach wurden Ausgangssperren verhängt und ganze Städte abgeriegelt. Spezialeinheiten und gepanzerte Fahrzeuge wurden für den Häuserkampf ins Kurdengebiet verlegt. Allein in den vergangenen Tagen kamen acht Menschen ums Leben. In Teilen der Region herrscht ein inoffizieller Ausnahmezustand.

Lehrer verlassen Kampfgebiet

Für die Bevölkerung ist das eine Katastrophe. Wohnhäuser, Schulen und Moscheen sind während der Gefechte zerstört worden. Das öffentliche Leben und der Schulunterricht kommen zum Erliegen – allein in den Städten Cizre und Silopi haben 3000 Lehrer auf Empfehlung der Behörden die Kampfgebiete verlassen. „Manche Städte und Stadtviertel im Südosten der Türkei sehen aus wie in Syrien“, sagt der Politologe Behlül Özkan.

Die Regierung in Ankara sieht keine Alternative zur militärischen Option. Premier Ahmet Davutoğlu sagte, er sei unglücklich über die Ausgehverbote, doch seien sie zum Schutz der Zivilbevölkerung nötig. Wenn nötig, würden die kurdischen Städte „Haus für Haus, Straße für Straße von der PKK gesäubert“. Laut Medienberichten planen die Sicherheitskräfte eine großflächige Offensive gegen die PKK.

Die prokurdische Partei HDP erklärte, auch sie sei gegen das Ausheben von Gräben, doch seien diese Aktionen die Folge des von der Regierung provozierten Abbruchs der Friedensgespräche. Die Regierung habe den Kurden den Krieg erklärt. Menschenrechtler beklagen, die Ausgehverbote gingen vielfach mit Strom- und Wassersperren einher, die den Zivilisten das Leben erschwerten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.12.2015)

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