Konservative und Sozialisten befürchteten hohe Verluste, denn die spanische Bevölkerung machte die Großparteien für Wirtschaftsflaute und Korruption verantwortlich.
Madrid. Die Parlamentswahl stand im Zeichen der schweren Finanz- und Wirtschaftskrise, die Spanien seit Jahren durchmachen muss und die Armut und Arbeitslosigkeit auf bisher nicht gekannte Höhen getrieben hat. Die meisten Spanier merken wenig davon, dass die Wirtschaft nun seit einigen Monaten wieder wächst: Jeder zweite Jugendliche hat nach wie vor keinen Job. Und die, die eine Arbeit haben, müssen sich meist mit schlecht bezahlten Zeitarbeitsverträgen begnügen.
Auch schwere Korruptionsskandale in den Reihen der Konservativen wie der Sozialisten schädigten die Glaubwürdigkeit der beiden Traditionsparteien. Allen voran geriet Premier Mariano Rajoy ins Zwielicht, dessen Partei zuletzt durch eine ganze Serie von Schmiergeldskandalen erschüttert wurde. Auch die oppositionellen Sozialisten, die sich in den vergangenen Jahrzehnten mit den Konservativen an der Macht abwechselten, sind schwer belastet – etwa durch einen gigantischen Betrug mit EU-Arbeitsfördermitteln in Andalusien.
Sowohl die regierenden Konservativen von Premier Rajoy als auch die oppositionellen Sozialisten hatten bereits vor der Wahl befürchtet, bei der Abstimmung am Sonntag hohe Verluste hinnehmen zu müssen. Alle Prognosen vor der Wahl wiesen auf Zugewinne für die Protestparteien, die Mitte-rechts-Bewegung Ciudadanos und die linksradikale Podemos hin.
Der große Unmut in der Bevölkerung führte zur Geburt der Protestparteien: Die linksalternative Partei Podemos entstand vor zwei Jahren aus den massiven Straßenprotesten empörter Bürger gegen den harten Sparkurs der Regierung und gegen immer neue Korruptionsfälle in der Politik.
Lockerung der Sparpolitik
Podemos-Chef Pablo Iglesias verspricht ärmeren Familien mehr Hilfen, will Wohlhabende und Unternehmensgewinne stärker besteuern und mit der EU eine Lockerung der Sparpolitik aushandeln. Bei Podemos gab man vor der Wahl bekannt, man könne sich vorstellen, mit den Sozialisten eine Koalition zu formen – eine Zusammenarbeit, die bereits in mehreren Städten und Regionen funktioniert.
Die liberale Bürgerplattform Ciudadanos stammt aus der abdriftenden Region Katalonien und kämpft dort seit zehn Jahren gegen die Unabhängigkeit Kataloniens und für die Einheit Spaniens. Vor einem Jahr wagte Parteichef Albert Rivera den Sprung auf die nationale Bühne und gewann mit seiner Forderung nach einer „sauberen Politik“ ohne Korruption und Privilegien schnell Popularität. Rivera vertritt eine wirtschaftsliberale Politik, will die aufgeblähte Verwaltung straffen, Steuern senken und ebenfalls die bisherige harte Austeritätspolitik etwas lockern.
„Wir werden das Land ändern“
Bei seiner Stimmabgabe in Madrid sagte Rivera am Sonntag, dass Spanien mit dem Aufstieg der jungen Parteien vor einer „neuen Ära“ stehe. „Wir steuern auf eine zweite Transition zu“, sagte er. Als erste Transition werden in Spanien die Jahre des Übergangs von der 1975 erloschenen Diktatur zur Demokratie bezeichnet. „Egal wer gewinnt, wir alle werden das Land ändern.“
Ähnlich äußerte sich Podemos-Vorsitzender Iglesias, der in seinem Wahllokal im Madrider Arbeiterviertel Vallecas mit den Rufen „Pablo, Regierungschef“ begrüßt wurde. Er kündigte an, dass die spanischen Bürger bei dieser Wahl dem politischen Establishment „eine demokratische Lektion“ erteilen würden. „Es ist wunderbar, dies erleben zu dürfen.“
Vor der Wahl hatten sich sowohl Konservative als auch Sozialisten gegen die Bildung einer Großen Koalition ausgesprochen. Aber auch die liberal-bürgerliche Partei Ciudadanos hatte im Wahlkampf ausgeschlossen, Konservative, Sozialisten oder die linke Podemos bei einer Regierungsbildung zu unterstützen.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.12.2015)