Unbegleitet, minderjährig: Allein auf dem Weg nach Europa

Für europäische Eltern unvorstellbar, schicken Familien aus arabischen oder afrikanischen Krisengebieten selbst Sieben- oder Zehnjährige allein per Schlepper nach Europa.
Für europäische Eltern unvorstellbar, schicken Familien aus arabischen oder afrikanischen Krisengebieten selbst Sieben- oder Zehnjährige allein per Schlepper nach Europa.(c) REUTERS (ALKIS KONSTANTINIDIS)
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Rund 8000 minderjährige Flüchtlinge sind heuer allein nach Österreich gekommen. Vom Tod als Begleiter auf der Flucht und der Hoffnung auf ein Leben in Freiheit.

Wien. 7155 Kinder und Jugendliche – so viele unbegleitete minderjährige Flüchtlinge haben heuer, bis Stichtag 31. Oktober, in Österreich um Asyl angesucht. 459 von ihnen waren keine 14, als sie sich von Kabul oder Damaskus aus auf den Weg nach Europa gemacht haben – oder von ihren Eltern als eine Art Anker geschickt wurden, um die Familie legal nachzuholen. Mittlerweile (die Zahlen liegen noch nicht vor) werden es wohl an die 8000 UMF (so heißen sie im Bürokratendeutsch) sein, die um Asyl angesucht haben. Etwa zwei Drittel von ihnen stammen aus Afghanistan, gefolgt von den Herkunftsländern Syrien, Irak, Somalia, Pakistan. Meistens werden Burschen nach Europa geschickt, meist mit dem Auftrag, die Familie nachzuholen. Denn da herrschen in den Herkunftsländern große Illusionen. Rechtlich wird die Lage für junge Flüchtlinge in Europa aber schwieriger, der Druck auf sie aus der Heimat ist enorm.

Kritik von Hilfsorganisationen

Aber gerade bei Jugendlichen aus Afghanistan schwinden die Chancen, die Familien zu holen. Bekanntlich sieht die Verschärfung des Asylgesetzes Restriktionen bei der Familienzusammenführung vor: Bei subsidiärem Schutz (einer Art Asyl light, die etwa Afghanen oft gewährt wird) gilt künftig eine Wartefrist von drei Jahren vor einem möglichen Nachzug. Die meisten Minderjährigen könnten Familiennachzug also erst beantragen, wenn sie schon volljährig sind – dann gelten hohe wirtschaftliche Hürden. De facto werden sie ihre Familien also kaum legal holen können. Ein Umstand, den Hilfsorganisationen kritisieren – weil das heißen könnte, dass noch jüngere Kinder nach Europa geschickt werden. Auch ihre Unterbringung sorgt für Kritik: Derzeit sind laut SOS-Kinderdorf rund 3000 Minderjährige in Großquartieren des Bundes untergebracht. Bis auf Schlafplatz und Nahrung sind sie dort de facto auf sich allein gestellt. Die Volksanwaltschaft hat zuletzt in einem Großquartier für junge Flüchtlinge in Leoben Missstände festgestellt: 300 junge Flüchtlinge seien in einer viel zu kalten Lagerhalle untergebracht, altersgerechte Betreuung gibt es nicht.

Porträts: Junge Flüchtlinge in Österreich

Halbwaise, Arbeiter, im Schlaf verfolgt von den Toten im Meer

Kalil wurde mit elf Familienoberhaupt. Die Flucht hat er nur knapp überlebt.

Wien. Kalil (der Name ist geändert, damit seine Schlepper ihn nicht finden), 13, sagt, er habe in Afghanistan ein schönes Leben gehabt. Früher. Als er elf war, wurde sein Vater durch Bomben der Taliban getötet, Kalil wurde zum Familienoberhaupt und dafür verantwortlich, Mutter, Schwester und Zwillingsbruder zu versorgen. Er brach die Schule ab, verdiente Geld als Gelegenheitsarbeiter, meist als eine Art Möbelpacker. Wenig später floh die Familie in den Iran, Kalil arbeitete als Kellner und auf dem Bau. Aber die Situation war aussichtslos: Afghanen werden im Iran nicht anerkannt. Kalil erzählt von der Angst, entdeckt und zurückgeschickt zu werden. Er beschloss, nach Europa zu gehen, um seine Familie später nachzuholen. Er ließ sich von Schleppern in die Türkei bringen, dort wurde er mit 70 anderen Menschen in ein schäbiges Schlauchboot gesetzt. Es sank. „Nur vier haben überlebt, einer davon ich“, sagt der schmale Bursche, vergräbt das Gesicht in seinen Händen, weint, verlässt schließlich mit einem Betreuer der SOS Kinderdorf-WG, in der er lebt, den Raum.
„Ich weiß nicht, ob ich hier überhaupt angekommen bin“, sagt er später. Erzählt, dass er jede Nacht träumt, wieder ins Wasser zu fallen. Von quälenden Kopfschmerzen, davon, jede Nacht bis vier, fünf Uhr wach zu liegen aus Angst vor dem Schlaf. „Wenn ich schlafe, sehe ich die roten Augen der Kinder, die im Meer ertrunken sind. Ich konnte nicht helfen.“ Er sagt, er habe Glück, nun seit November in Österreich zu sein, dass man sich gut um ihn kümmere. „Aber ich sitze in der Schule und kann nur an meine Familie denken. Trotz allem weiß ich aber, dass meine Zukunft gut wird. Ich werde hart arbeiten, lernen, Karriere machen, damit ich Kindern helfen kann und sie nicht durchmachen müssen, was ich erlebt habe.“

16-jähriger Freidenker aus Kabul als Schreck der Taliban

Liberal erzogen, eckte der junge Afghane bei den Taliban an und musste fliehen.

Wien. Milad, 16, ist in Afghanistan aufgewachsen. Mit seinem Weltbild aber passt er dort, angesichts der stärker werdenden Taliban, nicht recht hin: Die Mutter eine Lehrerin, der Vater ebenfalls Akademiker, er wurde liberal erzogen: „Wir lebten in Kabul, dort fürchtet jeder die Taliban. Wir, die junge Generation, wollen frei sein, wir wollen uns mitteilen, sagen, was wir denken. Wenn die Taliban das mitkriegen, bringen sie dich um oder ins Gefängnis. In Afghanistan gibt es kein freies Leben“, sagt er in fließendem Englisch, das er in privaten Kursen in Kabul und in den fünf Monaten, die er in Österreich ist, gelernt hat.
Der Einfluss der Taliban wurde jedenfalls stärker, auch in seiner Schule: „Du kannst nie sagen, wer Talib ist und wer nicht, sie sind überall.“ Als die Taliban herausfanden, dass seine Familie nicht in deren Weltbild passt, „wurde es für uns wirklich gefährlich“ – also beschlossen seine Eltern, ihn als Ersten nach Europa zu schicken, in der Hoffnung, später nachzukommen. Warum gerade ihn? Er war es, der vor allem Probleme mit den Taliban hatte, sagt Milad. So genau will er das nicht in der Zeitung lesen. Nur so viel: Er hat in der Schule wohl zu deutlich seine Meinung gesagt. Sein Vater brachte ihn schließlich nach Pakistan, dann ging es per Schlepper, Boot und über die Balkanroute in zwei Monaten nach Österreich, nach einigen Wochen in Traiskirchen im Sommer lebt er nun im Georg-Danzer-Haus. Er hofft, wie viele junge Afghanen, die Familie nachzuholen. Auch wenn das nicht gelingt, nach Afghanistan könne er nicht zurück. „Jeder dort kennt jetzt meine Geschichte, die Taliban würden mich sofort verhaften.“ Er will in Österreich bleiben, Jus und Politikwissenschaft studieren und als Anwalt „etwas für die Entwicklung der Menschheit“ tun.

Mit sieben allein auf der Flucht: „Ich weiß nicht, woher ich bin“

Der siebenjährige Salim ist mit seinem elfjährigen Onkel nach Wien gekommen.

Wien. „Ich kann mich gar nicht mehr erinnern, woher ich komme“, sagt Salim. Er ist sieben Jahre alt, und bei Flüchtlingskindern seines Alters sei es nicht ungewöhnlich, dass sie ziemlich durcheinander sind, vieles vergessen, sagt einer der Betreuer in Salims SOS-Kinderdorf-WG. Er erzählt davon, dass der junge Afghane mit seinem elfjährigen Onkel Issam im Sommer in Traiskirchen angekommen ist. Dass er damals völlig verhärmt, viel zu erwachsen gewirkt habe. Mittlerweile blitzt das Kindliche wieder durch, wenn Salim verschmitzt lächelt und doch von daheim erzählt: Er habe zwei kleine Schwestern, zwei Brüder. „Ich möchte so gern, dass meine Familie wieder bei mir ist.“ Auch seine Familie ist in den Iran geflohen, Salim musste mit fünf Jahren anfangen zu arbeiten. Unter anderem sammelte er Müll auf den Straßen ein. Narben in seinem Gesicht zeugen davon, dass dabei einmal ein Sack voll Scherben auf ihn gefallen ist.

Zur Schule gehen konnte er nicht. Die Idee, nach Europa zu gehen, hatten der Elfjährige Issam und er selbst, sagt Salim, nachdem ihnen ein Schlepper versprochen hatte, sie nach Europa und in ein gutes Leben für die ganze Familie zu bringen. Die Eltern hätten es gestattet, dass sich die zwei allein auf den Weg machen. Über die Flucht, sagt er, wisse er nicht viel, nur dass sie in Teheran abgeholt wurden und an der Grenze zur Türkei dann in einem Dschungel ausgesetzt worden seien. „Sie haben uns im Stich gelassen, dann sind bewaffnete Männer gekommen“, sagt er. Auch an ein Boot kann er sich erinnern, mehr spricht er darüber nicht.

Lieber darüber, wie sehr es ihm in Österreich gefällt. Sein Wunsch? Dass er die Schule schafft, studieren kann. Ein wenig Deutsch spricht er schon. „Und dass meine Mutter zu mir kommt, ich vermisse sie so sehr.“

Von Schleppern und vielen Nächten im Freien – in Österreich

Akbar, 15, ist aus Tadschikistan gekommen, um den Vater zu suchen.

Wien. Warum Akbar mit seinem Cousin Ilkhom (siehe unten) Tadschikistan verlassen hat? „Das ist schwer“, sagt er, „muss ich das genau erzählen?“ Nur so viel sagt er dann, es gehe um seinen Vater. Er sei vor Jahren verschwunden. Wie und warum, wusste die Familie nicht, vermutete ihn aber in Österreich. Also wurde Akbar weggeschickt, „vielleicht würde ich ihn finden.“ Per Schlepperfahrzeug in Österreich angekommen, wurde Akbar nach Traiskirchen gebracht. Verbrachte dort im Herbst zwei Monate, viele Nächte davon im Freien. Nun lebt er im Georg-Danzer-Haus in Stockerau, lernt dort von Montag bis Freitag fünf Stunden am Tag Deutsch, spielt Fußball, wartet auf das zweite Interview im laufenden Asylverfahren – und hofft, im neuen Jahr ins Gymnasium gehen zu dürfen.

Rechtlich hat er keinen Anspruch auf Schulbesuch, aber Schuldirektoren können Flüchtlinge eigenmächtig als außerordentliche Schüler zulassen. Deutsch spricht er zwar schon, für einen regulären Schulbesuch fehlt aber noch einiges an Basisbildung. Später möchte Akbar jedenfalls Informatik studieren. Videos zu schneiden habe er schon gelernt, das mache ihm viel Freude. Seinen Vater sucht er nicht mehr – das hat er mittlerweile aufgegeben.

Vater entführt, von der Mafia bedroht, aus der Schule ausgeschlossen

Ilkhom, 15, ist vor der Mafia aus Tadschikistan nach Österreich geflohen.

Wien. Ilkhom, 15, ist in Tadschikistan aufgewachsen. Dort, sagt er in dem brüchigen Deutsch, das er in den drei Monaten, die er nun in Österreich ist, gelernt hat, herrsche kein Krieg wie im Nachbarland Afghanistan. Aber das Leben dort sei „sehr schlecht“, vor allem wegen „der Mafia“. Sein Onkel, sagt er, sei Geschäftsmann gewesen, er habe eine Fabrik gehabt und immer viel Geld an die Mafia bezahlen müssen. Irgendwann sei sein Onkel immer stärker bedroht worden, „die Mafia war im Haus, sie schlugen uns“, erzählt er – und hätten den Onkel mitgenommen. Seit damals, 2011, weiß die Familie nichts mehr über dessen Verbleib. Die Situation für seine Familie habe sich dann mehr und mehr verschlechtert, er konnte nicht mehr zur Schule gehen. So beschloss seine Mutter schließlich, ihn als Ersten nach Europa zu schicken, bezahlte einem Schlepper 8000 Euro, um Ilkhom (gemeinsam mit Cousin Akbar, siehe oben) über Usbekistan, Kasachstan, Russland und die Ukraine nach Österreich zu bringen. Nach zwei Monaten Traiskirchen konnte Ilkhom ins Georg-Danzer-Haus Stockerau einziehen. In diesen Häusern in und um Wien leben mittlerweile 35 minderjährige Flüchtlinge. Für Burschen wie Ilkhom ist das wie ein Lottosechser: Die Jugendlichen leben wie in einer großen Familie, werden intensiv betreut und gefördert, lernen täglich Deutsch, Ilkhom besucht jeden Mittwoch einen Theaterworkshop, dreimal in der Woche spielt er Fußball.

Ilkhom steckt im Asylverfahren, als 15-Jähriger ist er nicht mehr schulpflichtig. Er hofft, dass er trotzdem ab Jänner das Gymnasium als außerordentlicher Schüler besuchen und, so sein Traum, Informatik studieren kann. Der ursprüngliche Plan, seine Familie nach Österreich zu holen, ist indes in weiter Ferne. (cim)

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.12.2015)

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