Münkler: "Putin hat einen genialen Coup gelandet"

(c) FABRY Clemens
  • Drucken

Der deutsche Geopolitologe Herfried Münkler lässt das Jahr 2015 Revue passieren. Sein Fazit: Die gespaltene EU steht vor dem Zerfall, die Türkei bringt sich als Schleusenwärter der Flüchtlingskrise strategisch zurück ins europäische Spiel.

Für einen historischen Blick zurück ist es wahrscheinlich ein bisschen früh. Trotzdem: Was war wirklich bedeutsam im Jahr 2015?

Herfried Münkler: Die Entwicklung im Vorderen und Mittleren Orient. Und in Verbindung damit die Flüchtlingsproblematik und die neue Form der Kooperation, die sich zwischen Europäern und Russen abzeichnet.

Wird die Flüchtlingskrise zu einem strategischen Umdenken in Europa führen, zu stärkerem Engagement in Nahost?

Die USA betrachten Europa nicht mehr als ihr sicherheitspolitisches Mündel. Deshalb müssen sich die Europäer anders als früher selbst um die Stabilität ihrer Peripherien kümmern.

Und kann das Europa?

Die Amerikaner beteiligen sich zwar an einer Reihe von Aktionen im Nahen Osten, aber doch sehr zurückhaltend. Die USA haben nach dem Irak-Krieg ihre imperiale Überdehnung erkannt und sich dem Pazifik als attraktiverem Raum zugewendet. Der Nahe Osten ist jetzt in dramatischer Weise ein europäisches Problem. Die Europäer müssen deshalb höhere militärische Leistungsfähigkeit und auch mehr strategischen Verstand entwickeln. Ob sie das können und tun, ist eine offene Frage.

Aber die Botschaft ist heuer angekommen.

Sehr deutlich. Man kann einen Marshallplan zur Stabilisierung des Nahen Ostens von Marokko bis Jordanien und auch des Gürtels in der Sahelzone von Mali über Nigeria bis Somalia überlegen. Denn, wenn dort wie in Syrien Bürgerkriege ausbrächen und ähnliche Flüchtlingsbewegungen in Gang kämen, wäre das für Europa eine Katastrophe. Europa muss sein Vorfeld bewirtschaften.

2015 ist auch ein Jahr der Spaltung Europas.

Es gibt mindestens zwei Spaltungslinien in der EU: zwischen Nord und Süd mit den unterschiedlichen Mentalitäten in der Fiskalpolitik, gleichzeitig zwischen Westeuropa und Mittelosteuropa in der Flüchtlingskrise im Hinblick auf die Akzeptanz ethnischer und religiös-kultureller Vielfalt. Die EU-Kommission muss beide Spaltungslinien zunächst einmal als gegeben akzeptieren und geschickt bearbeiten, damit sie nicht zu einer tatsächlichen Spaltung führen.

Bis jetzt haben große Krisen oft EU-Integrationsschübe bewirkt. Auch diesmal?

Dass Europa gestärkt aus allen Krisen hervorgegangen ist, ist vor allem eine große Erzählung, mit der sich die Europäer Mut zusprechen, dass alles nicht so schlimm wird. In diesem Fall aber haben wir es mit einem Typus Krise zu tun, wie ihn die Mediziner kennen: der Entscheidung zwischen Gesundung und Exitus. Und das ist im Augenblick offen. Keiner kann seriös sagen, dass die Krise der Handlungsfähigkeit der EU und der Gegensätze innerhalb der Union nicht zum Zerfall Europas führt: von Grexit bis Brexit und der dramatischen Spaltung zwischen den Visegrád-Ländern und dem alten EWG-Europa.

Wie stellt sich in diesem Zusammenhang die Rolle Deutschlands und Angela Merkels dar?

Die Deutschen wollten Europa nie führen, sondern agierten eher aus dem Hintergrund. Deutschland spielte eine Reihe von Initiativen über die Franzosen. Doch der deutsch-französische Motor funktioniert in dieser zentralen Krise nicht mehr wie früher. Frankreich ist ökonomisch weit hinter Deutschland zurückgefallen. Die Bundesrepublik musste eine Führungsposition übernehmen, die sie nicht angestrebt hat und auf die sie nicht vorbereitet ist.

Und wie meistert Deutschland die Aufgabe?

Deutschland war Zahlmeister und muss jetzt auch die Rolle des Zuchtmeisters übernehmen, des Hüters der Werte und Verträge, weil das die Kommission teilweise nicht schafft.

In der Flüchtlingskrise hat Europa viel moralisiert, aber letztlich realpolitisch agiert, indem es die Türkei bat, Flüchtlinge aufzuhalten. Wie bewerten Sie diese Ambivalenz?

Europa sieht sich Werten verpflichtet, aber das ist eher ein Legitimitätsvorbehalt und kein zentraler Imperativ operativer Politik. Das hat zur Folge, dass Politik häufig einen moralisierenden Klang bekommt. Merkel entschied sich im Spätsommer, die Flüchtlinge hereinzulassen, um Europa zu retten. Hätte Deutschland die Grenzen zugemacht, wäre es zu einem Stau von 700.000 Menschen auf der Balkanroute gekommen – mit katastrophalen Folgen. Deutschland spielt, das gilt auch für die Eurofrage, die Rolle, die man im Fußball Libero oder Ausputzer nannte.

Merkels Entscheidung hatte vielleicht auch persönliche Image-Gründe. Rhetorisch hält sie ihre „Wir schaffen das“-Linie bis heute, während sie inhaltlich umschwenkte und den Deal mit den Türken machte.

Den Deal mit den Türken würde ich anders beurteilen. Derjenige, der wirklich die Hand am Stöpsel hatte, war von Anfang an Präsident Erdoğan. Er hat sich strategisch in Europa ins Spiel gebracht, als er diesen Stöpsel herauszog.

Das ist Erdoğan zweifellos gelungen.

So wie sich auch Putin gegenüber den Europäern wieder ins Spiel brachte, als er in Syrien mit seiner Militärintervention auftauchte. Seither hat die Frage der EU-Sanktionen gegen Russland eine andere Dimension. Europa kann seine Probleme im Südosten und Süden nicht lösen, wenn es Russland als strategischen Gegenspieler hat. Das hätte man auch früher wissen können, wenn man auf die Geografie geschaut hätte, aber jetzt ist es durch die Flüchtlingsbewegungen ins Gedächtnis zurückgerufen worden. Wenn nach Libyen und Syrien auch noch Ägypten in die Luft ginge, hätte man gar keine Chance mehr, diesen Raum zu stabilisieren.

Glauben Sie nicht, dass Putin die russischen Kräfte überdehnen und tiefer in den Syrien-Konflikt geraten könnte, als ihm lieb ist?

Putin hat in Syrien einen genialen Coup gelandet; er ist damit aus der Isolation gekommen. All das hat aber einen Preis. Ein erhöhtes militärisches Engagement könnte Russland auf Dauer überfordern. Die Annäherung an China hat Putin bisher wenig gebracht und viel gekostet. Es gibt inzwischen auch ernste Anzeichen, dass die ökonomische Krise in Russland politische Effekte zeitigt. Nicht, dass es eine Opposition relevanten Ausmaßes gäbe, aber die bedingungslose Gefolgschaft lässt nach. Die Befriedigung der Russen darüber, nicht mehr gedemütigt und wieder wer zu sein in der Welt, wiegt möglicherweise auf Dauer die Entbehrungen in der täglichen Lebensführung nicht auf.

Die Realpolitik ist zurück. Ist eine Lösung in Syrien, zumindest im Anfangsstadium, nur mit Diktator Assad möglich?

Ja. Assad steht ja nur für die Alawiten, die in Syrien 13 bis 15 Prozent der Bevölkerung stellen. Die EU kann an keiner Lösung interessiert sein, die dazu führt, dass die sunnitische Flüchtlingsbewegung zwar aufhört, aber dann die Alawiten zu uns kommen.

Aber Assads Herrschaftsmodell, mit einer Minderheit Syrien zu dominieren, lässt sich natürlich auch nicht aufrechterhalten.

Das ist völlig klar. Es zeichnet sich das Ende Syriens als einheitlicher Staat ab, ein Flickenteppich wie nach dem Zerfall Jugoslawiens. Das hätte zum Ergebnis, dass all diese Kleinststaaten wirtschaftlich nicht überlebensfähig sind. Wenn es gelänge, den syrischen Bürgerkrieg auf Basis einer territorialen Vereinbarung einzufrieren, dann würden die Russen und Iraner ihren Teil alimentieren und die Europäer einen anderen. Das wäre freilich nur eine Zwischenlösung, aber zunächst die einzige Chance, den Konflikt zu beenden: eine regionale Parzellierung der religiösen und politischen Gruppen. Der IS verlagert möglicherweise schon sein Zentrum nach Libyen oder in den Jemen.

Überrascht es Sie, dass der IS noch immer große zusammenhängende Gebiete im Irak und in Syrien kontrollieren kann?

Eigentlich nicht. Die Amerikaner agieren die ganze Zeit in homöopathischen Dosen und zurückhaltend. Aus guten Gründen. Sie haben kein Interesse daran, den IS zu zerschlagen oder ihm seinen politischen Körper zu nehmen.

Warum?

Weil sich der IS dann in eine globale Untergrund-Netzwerkstruktur wie al-Qaida zurückverwandelt.

Aber jetzt agiert der IS ja auch bereits als globale Terrororganisation, wie der Anschlag in Paris beweist.

Die al-Qaida war ein anderes Kaliber. Ihre Anschläge hatten eine viel höhere strategische Qualität: Sie sprengten amerikanische Botschaften in Ostafrika und griffen einen US-Zerstörer im Hafen von Aden an. Und 9/11: die Attacken auf das World Trade Center und das Pentagon. Die Anschläge in Paris waren schrecklich, aber im Prinzip könnte sie jeder Dilettant durchführen. Mit dem Sturmgewehr im Café oder im Musikclub Leute erschießen kann jeder von uns, wenn er nur hinreichend entschlossen, todesmutig und brutal ist.

Ein Folgeproblem des Rückzugs der Amerikaner aus dem Nahen Osten ist, dass sich Regionalmächte verselbstständigen und wie Saudiarabien auf eigene Faust Krieg führen.

Das Paradigma für die Situation im Nahen Osten ist der Dreißigjährige Krieg, in dem es von 1618 bis 1648 eine Reihe von Hegemonialakteuren, Banden und Kriegsunternehmern gab und gleichzeitig eine ideologische Frontbildung zwischen Katholiken und Protestanten. Jetzt steht Saudiarabien an der Spitze einer sunnitischen Koalition, während der Iran die Schiiten anführt. Das ist ein furchtbares Szenario: ein Dreißigjähriger Krieg im Vorderen Orient, der in den Kaukasus, den östlichen Balkan und nach Nordafrika ausgreift.

Wir brauchen den neuen Westfälischen Frieden nicht erst in 30 Jahren.

Ja. Europas Eliten ist klar, dass wir den Nahen Osten nicht mehr so dilatorisch behandeln können wie bisher.

Leider haben Demokratien oft nur geringe Aufmerksamkeitsspannen. Autoritären Systemen fällt es leichter, langfristig zu denken.

Es ist sicherlich eine der zentralen Verwundbarkeiten der demokratischen Regierungsweise, dass sie von Wahl zu Wahl denkt und sich in dieser Zeitspanne an Meinungsumfragen orientiert.

Ist der bisherige Umfrageerfolg von US-Präsidentschaftskandidat Donald Trump eine Verfallserscheinung der US-Demokratie?

Die hohen Zustimmungswerte für einen wild gewordenen Milliardär mit idiotischen Vorstellungen spiegeln die Verunsicherung der US-Bevölkerung wider. Es zeigt auch, dass der Einfluss der Ostküstenaristokratie zurückgeht. US-Außenpolitik wurde bisher von 100 Familien gemacht. Und das Volk applaudierte einmal einem Demokraten und einmal einem Republikaner. Es gab so etwas wie eine gemeinsame Rationalität. Das könnte sich jetzt ändern.

Das werden wir nächstes Jahr sehen.

Steckbrief

1951
Geboren am 15. August in Friedberg, Hessen. Nach seinem Studium der Germanistik, Politikwissenschaft und Philosophie dissertierte Münkler über Macchiavelli.

1992
Berufung an die Berliner Humboldt-Universität, wo er seither als Professor Politische Theorie und Ideengeschichte lehrt.

2002
Münklers Buch „Die neuen Kriege“ erscheint. Darin setzt er sich mit asymmetrischer Kriegsführung auseinander. Münkler wird zum gefragten Politikberater, bis heute steht er mit Deutschlands Außenminister Steinmeier in Kontakt.

Weitere Werke: „Imperien – die Logik der Weltherrschaft“ (2005), „Die Deutschen und ihre Mythen“ (2008), „Mitte und Maß. Der Kampf um die richtige Ordnung“ (2010), „Der Große Krieg. Die Welt 1914 bis 1918“.

Derzeit arbeitet Münkler an einem Buch über Migration und Integration.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.12.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.