Afghanistan: Die Winteroffensive der Taliban

Checkpoint in der Nähe der umkämpften Stadt Sangin in der Provinz Helmand, die die britische Armee einst Sangingrad getauft hat. Im Zentrum der Opiumproduktion haben die Taliban die personell wie materiell angeschlagenen afghanischen Streitkräfte arg in Bedrängnis gebracht.
Checkpoint in der Nähe der umkämpften Stadt Sangin in der Provinz Helmand, die die britische Armee einst Sangingrad getauft hat. Im Zentrum der Opiumproduktion haben die Taliban die personell wie materiell angeschlagenen afghanischen Streitkräfte arg in Bedrängnis gebracht.(c) APA/AFP/NOOR MOHAMMAD
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Gegen den Vorstoß der Extremisten in der Provinz Helmand wirft die Regierung Elitetruppen, US- und britische Spezialeinheiten in die Schlacht. Die Radikalen gewinnen an Boden, für die Afghanen summieren sich die Fluchtgründe.

Wien/Kabul. Die Zeiten, als der harsche Winter am Hindukusch die Aufständischen in Afghanistan zu langen Kampfpausen zwang, in denen sie ihre Kräfte sammelten und Frühjahrsoffensiven vorbereiteten, sind spätestens seit dem Abzug der Alliierten im Vorjahr vorbei. Anschläge der Taliban wie am Montag in Kabul, wie jüngst in Bagram oder wie kürzlich auf dem Flughafen in Kandahar treffen die Regierung der nationalen Einheit und ihre Verbündeten ins Mark – und erst recht die Großoffensive in Helmand, der Provinz im Süden und Zentrum der Opiumproduktion.

Nie seit Beginn des Afghanistan-Kriegs im Oktober 2001 hielten die Taliban mehr Macht in Händen als heute; nie verzeichneten die afghanischen Streitkräfte einen größeren Blutzoll. Die kurzzeitige Eroberung von Kunduz, des ehemaligen Hauptquartiers des deutschen Bundeswehrkommandos im Norden des Landes, war vor ein paar Monaten ein Fanal, das in den Verteidigungsministerien in Washington, London, Paris und Berlin die Alarmsirenen schrillen ließ. Die Nato-Partner einigten sich darauf, die 12.000 Militärberater länger in Afghanistan zu belassen, um den zäh errungenen Fortschritt nicht vollends aufs Spiel zu setzen.

Kämpfen und Verhandeln

Präsident Ashraf Ghani und sein Außenminister Abdullah Abdullah verfolgen eine Doppelstrategie, um den Einfluss der Taliban einerseits einzudämmen und andererseits die Islamisten zumindest lokal an der Macht zu beteiligen. Kämpfen und verhandeln – so lautet derzeit die Devise der Regierung in Kabul, einer großen Koalition zwischen den Paschtunen und Tadschiken, den beiden wichtigsten Ethnien.

In Gesprächen mit dem pakistanischen Präsidenten, Nawaz Sharif, und zuletzt mit dem starken Mann des Nachbarstaats, Armeechef Raheel Sharif, wollen sie im Jänner eine neue Verhandlungsrunde mit den Taliban unter Ägide der USA und Chinas in Gang setzen. Die von Washington initiierten Sondierungen im Golf-Emirat Katar waren schon vor Jahren im Sand verlaufen. Im Sommer war eine Gesprächsrunde daran gescheitert, dass eine Seite die Nachricht vom Tod des Taliban-Führers Mullah Mohammed Omar lanciert hatte. Er war bereits zwei Jahre zuvor in einem Spital in der pakistanischen Metropole Karatschi gestorben.

Im Machtkampf um dessen Nachfolge hat sich derweil der auch schon öfter totgesagte Mullah Akhtar Mansour durchgesetzt, dem beste Beziehungen zu den Drogenbaronen in Helmand nachgesagt werden. Die afghanischen Taliban sind indessen fragmentiert: Taliban-Eminenzen im Nachbarland Pakistan, dem früheren Protektor und Spiritus Rector der „Gotteskrieger“, zweifelten in einem Brief neuerlich Mansours Legitimität an, und die Rivalität zu Mullah Qayum Zakir, seinem einst in Guantánamo internierten Kontrahenten, ist längst nicht beigelegt.

Vielfach sind Taliban-Kämpfer abgesprungen und zu anderen radikalen Gruppen übergelaufen, die sich inzwischen wiederum dem sogenannten Islamischen Staat angeschlossen haben. General John Campbell, Kommandeur der verbliebenen US-Truppen, schätzt die Zahl der IS-Kämpfer in Afghanistan, insbesondere im Grenzgebiet zu Pakistan, auf 1000 bis 3000. In den noch versprengten IS-Milizen erwächst den Taliban jetzt Konkurrenz, und in einigen Provinzen verbreiten sie Angst und Schrecken.

Umgekehrt ist auch die Regierung in Kabul den politischen Fliehkräften ausgesetzt. US-Außenminister John Kerry hatte die Präsidentschaftskandidaten Ghani und Abdullah im Vorjahr zu einem Machtduo zusammengespannt, was einen Proporz bis in die unteren Ebenen von Verwaltung, Polizei und Militär zur Folge hatte – und der Korruption, einer Geißel des Landes, Vorschub leistete. Warlords, Ex-Minister und Gefolgsleute des langjährigen Präsidenten Hamid Karsai üben indes immer vehementer Kritik an der Regierung und fordern die Einberufung einer Loya Jirga, einer Versammlung der Stammesführer, und Neuwahlen.

Militärischer Offenbarungseid

Die „Washington Post“ zitierte aus geheimen Protokollen des nationalen Sicherheitsrats, in denen Abdullah – der gleichsam als Premier agiert – das Scheitern Kabuls eingesteht: „Wir haben die Erwartungen der Menschen nicht erfüllt.“ Es ist ein militärischer Offenbarungseid. Der Armee fehle es an Disziplin, beklagte Abdullah. Der Armeechef monierte die schwache Kampfmoral. Dass viele Soldaten desertieren, dass offiziell viel mehr unter Sold als unter Waffen stehen, hat den Streitkräften bereits den Titel „Geisterarmee“ eingetragen. Der afghanische Geheimdienstchef bezeichnete Helmand indessen als Hauptrekrutierungsgebiet der Taliban. Bei den Gefechten in der ehemaligen Taliban-Bastion wurde zudem der Mangel an Ausrüstung und Munition evident, als Armeehubschrauber jüngst Munition, Waffen und Lebensmittel abwarfen.

Via Facebook setzte der Vize-Gouverneur der Provinz vor Weihnachten einen Hilferuf ab: „Ich kann nicht länger schweigen. Helmand steht kurz vor dem Fall.“ Seither beorderte Kabul Eliteeinheiten in die Südprovinz, und Spezialkräfte aus den USA und Großbritannien kämpfen an ihrer Seite, um die Kontrolle über die Stadt Sangin zurückzuerlangen – die die Briten wegen der schmerzlichen Verluste einst „Sangingrad“ getauft haben.

Viele fürchten eine neuerliche Radikalisierung, in Kabul demonstrierten neulich Tausende gegen die Eskalation der Gewalt. Präsident Ghani warnte bisher vergeblich vor einem Exodus: Mehr als 150.000 Afghanen flohen heuer über den Iran und das Mittelmeer nach Europa.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.12.2015)

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