Korea: Null Sehnsucht nach dem verlorenen Bruder

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Nach dem nordkoreanischen Atomtest herrscht auf der seit 70 Jahren geteilten koreanischen Halbinsel Hochspannung: Trotzdem hält Seoul am Projekt der Wiedervereinigung fest.

Ausgelassen stürmen die Oberstufen-Schüler in die Pizzeria, gleich ums Eck ihres Gymnasiums im Süden Seouls. Etwas müde wirken die Buben an diesem späten Nachmittag, aber auch erleichtert: Wieder ist ein anstrengender Schultag vorbei. Und immerhin haben sie jetzt etwas Zeit für sich, bevor es abends weitergeht: mit Lernen, Hausaufgaben machen, Privatstunden, bis tief in die Nacht hinein. Denn der gefürchtete Schulabschluss rückt näher. Nur gute Noten sowie hohe Punktzahlen bei der strengen Uni-Zulassungsprüfung öffnen die Tore zum begehrten Studienplatz.

Die Zukunftsplanung bestimmt den Alltag dieser jungen Generation der südkoreanischen Leistungsgesellschaft – und den ihrer Eltern. Tausende Dollar investieren Familien in Privatkurse, um ihre Kinder an Top-Unis unterzubringen, um den Weg zu lukrativen Karrieren zu ebnen. „Wir leben unter Dauerstress“, klagt Kang Dong (17). Er darf nicht mehr Fußballspielen, die Zeit muss er nützen, um sich auf die Prüfung vorzubereiten.


Keine Angst vor der Bombe
. Der Erfolgsdruck lastet auf den Schülern stärker als die Angst vor dem etwa 50 Kilometer entfernten Erzfeind Nordkorea. Mit der stalinistischen Atommacht befindet sich Südkorea formal noch im Krieg, die Spannungen erreichten erst diese Woche einen neuen Höhepunkt: Pjöngjang behauptet, eine Wasserstoffbombe gezündet zu haben, was Experten bezweifeln. Einen Atomtest scheint das Kim-Regime aber tatsächlich durchgeführt zu haben, den vierten seit 2006. Die internationale Gemeinschaft droht mit schärferen Strafen, in Seoul zeigt man sich demonstrativ kampfbereit.

Die fröhliche Pizzeria-Runde jedenfalls lassen die martialischen Muskelspiele der Nordkoreaner kalt. „Ich habe keine Angst. Die provozieren nur, das machen sie seit Jahren so“, sagt Kang. Auch Klassenkamerad Ryu Han Seok ist gelassen: „Niemand will Krieg. Nordkorea am allerwenigsten, sie können sich das gar nicht leisten.“

Aber vielleicht wird der Norden die Zukunft der Schulfreunde doch noch wesentlich prägen – zumindest legt ihnen das ihre Präsidentin, Park Geun-hye, ständig nahe. Trotz diplomatischer Eiszeit, des Atomtests und gelegentlicher Schusswechsel an der Grenze wie zuletzt im Sommer, träumt Südkoreas Staatschefin öffentlich von einer Wiedervereinigung Und dies noch offensiver als einige ihrer Vorgänger. Sie hat die Vorbereitung zum vereinten Korea zur Priorität ihrer Amtszeit erklärt, ein eigens gegründetes Komitee berechnet Kosten und entwickelt Szenarien. Park lässt sich auch nicht davon beirren, dass ihre Regierung „überhaupt keinen Plan hat, wie sie angesichts der Spannungen die Wiedervereinigung überhaupt in die Wege leiten soll“, sagt Politologe Choi Kang, Vizedirektor des Thinktanks Asan Institute for Policy Studies und Berater der Regierung. Doch konkrete Planung sei gar nicht das Hauptanliegen der Staatschefin: Vor allem wolle sie junge Südkoreaner vom Langzeitprojekt überzeugen.

Das ist offenbar wirklich notwendig. Denn den Visionen ihrer Präsidentin können die Oberschüler wenig abgewinnen. „Wir sind seit so langer Zeit getrennt. Unsere Wirtschaft, Politik, Gesellschaft, Kultur sind völlig unterschiedlich. Wir sollten vorerst zwei Länder bleiben. Auch dann, wenn das Regime stürzt“, findet Kang. Ryu nickt. „Erst müssten wir uns doch kennenlernen.“ Hong Jii Ho hingegen sieht das Ganze pragmatisch: Seiner Meinung nach sind alle Mittel recht, „um Nordkorea endlich zu kontrollieren“. Hong Young Gi ist nicht einverstanden. „Dort muss alles aufgebaut werden. Das werden wir zahlen. Ich wäre nur für eine Wiedervereinigung, wenn sich dafür unser Lebensstil nicht ändern müsste.“

Die Gefühlskälte der jungen Südkoreaner gegenüber dem „verlorenen Bruder“ im Norden schlägt sich in Umfragen nieder: 63,5 Prozent der befragten 20-Jährigen sagten unlängst, sie seien weder an dem Land Nordkorea noch an dessen Bevölkerung interessiert, vor zehn Jahren vertraten nur 36,8 Prozent diese Haltung. Zudem wünschen sich lediglich neun Prozent der 20-Jährigen eine schnelle Wiedervereinigung – unter ihren Eltern und Großeltern hoffen mehr als doppelt so viele darauf. Und nur 34 Prozent der jungen Südkoreaner sind bereit, für die Finanzierung einer Wiedervereinigung höhere Steuern zu zahlen (bei den 50-Jährigen sind es 64 Prozent). „Für die Jungen ist Nordkorea vorwiegend ein Sicherheitsproblem“, so Experte Choi.

Für ältere Menschen wie Lee Jin Ok, der den Krieg, die schmerzvolle Trennung, Armut und Diktatur in Südkorea noch erlebt hat, ist diese Gleichgültigkeit schmerzhaft. Der 68-Jährige sitzt auf einer Bank in einem kleinen Park im Zentrum von Seoul, füttert Vögel, wärmt sich in der schwachen Mittagssonne. Er versteht die Jungen nicht: „Wir sind ein Volk, wir gehören doch zusammen“, sagt er. „Wir müssen den Menschen im Norden helfen.“


Wunderwaffe.
Präsidentin Park weiß indes, dass solche patriotischen Appelle bei jungen Südkoreanern nichts bewirken. Und da sie sich zum Ziel gesetzt hat, die Jungen für das Projekt Wiedervereinigung zurückzugewinnen, lockt sie mit ökonomischen Argumenten: Ein vereintes Korea werde Reichtum, Wohlstand, Wachstum bringen, verspricht sie. Wirtschaftlich könnte Korea dann sogar Frankreich, Deutschland und Japan überholen.

Aber diese „ökonomische Wunderwaffe Wiedervereinigung“ überzeugt wenige. Wohl auch, weil einige Experten in Medien ganz andere Szenarien zeichnen: Auf Hunderte Milliarden Dollar werden die Kosten geschätzt, um den unterentwickelten Norden zu integrieren. Gar nicht miteinberechnet sind darin die Folgen möglicher drohender ziviler Unruhen und Massenflüchtlingsströme, sollte es zum Kollaps des Regimes kommen.

Die Kluft zwischen Nord und Süd zeigt sich am erkaltenden Verhältnis zu den 28.000 Nordkoreanern, die jetzt im Süden leben und dort staatlich versorgt werden. „Früher feierten wir sie als Nationalhelden. Jetzt empfinden wir sie als Last“, konstatiert Politologe Choi.

Wie schwierig die Zusammenführung der beiden koreanischen Welten ist, erlebt Lee Hung-hoon jeden Tag. Der Pastor leitet die Yeomyung-Schule für junge Flüchtlinge aus Nordkorea, die am leistungsorientierten südkoreanischen Schulsystem gescheitert sind.


Lebensschule.
„Wir bereiten unsere Schüler auf das Leben in Südkorea vor“, sagt der Direktor. „Sie lernen hier, Eigeninitiative zu ergreifen, was für viele die schwierigste Umstellung ist.“ Denn im totalitären Norden sei das Leben hundertprozentig fremdbestimmt. „Viele Schüler kommen in Tränen aufgelöst zu mir, weil sie es nicht schaffen, sich ihren Stundenplan selbst zusammenzustellen“, schildert er. Und so wird in den hellen Klassenräumen der kleinen Schule im Zentrum von Seoul nicht nur Geografie, Geschichte oder Mathe unterrichtet. Den Schülern wird beigebracht, alltägliche Dinge zu erledigen, etwa ein Kinoticket zu erwerben oder ein Bankkonto zu eröffnen. Auch psychologisch werden die jungen Nordkoreaner betreut. Die meisten sind schwer traumatisiert. Wut, Aggressivität, Zurückgezogenheit, Selbstmordgefährdung sind alltägliche Probleme in der Yeomyung-Schule. Viele Studenten mussten Familie und Freunde zurücklassen, erlitten Gewalt und Hunger.

Lee ist stolz darauf, wie viele seiner Ex-Schüler „es geschafft haben“, dass so viele arbeiten, heiraten, studieren, ein normales südkoreanisches Leben führen. „Wir zeigen im Kleinen, wie Wiedervereinigung funktionieren kann: durch Geduld, Verständnis und lange Vorbereitung .“

An den Wänden des Treppenhauses hängen Zeichnungen und Texte von Ex-Schülern. Darunter ein Gedicht, das in sorgfältiger Kalligrafie geschrieben ist. Darin schildert der Autor seine Flucht, seine Angst und die erlangte Freiheit: symbolisiert durch eine strahlende Sonne, die ihn in den Augen blendet.

Compliance-Hinweis
Die Autorin des Artikels wurde von der südkoreanischen Regierung nach Seoul eingeladen.

Fakten

Teilung. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Korea in zwei Besatzungszonen geteilt: Die UdSSR verwaltete den Norden, die USA den Süden. 1948 wurden zwei eigenständige Staaten gegründet, die den Kurs der Ex-Besatzer vertraten.

Krieg. 1950 versuchte das kommunistische Nordkorea durch einen Angriff auf den Süden die Vereinigung des Landes zu erzwingen. Der Korea-Krieg, in den sich mehrere Staaten einschalteten, wurde zum Stellvertreter-Krieg zwischen Großmächten. Der Waffenstillstand 1953 zementierte die Teilung. Südkorea wurde 1987 eine Demokratie, Nordkorea blieb eine KP-Diktatur.

Erzfeinde. Beide Länder sehen sich als „legitimes Korea“ und streben offiziell die Wiedervereinigung an. Seit 1953 gab es immer wieder Phasen der Annäherung und Entfremdung. Derzeit herrscht Eiszeit zwischen den beiden Koreas, Dialog gibt es keinen. Nach dem jüngsten Atomtest Nordkoreas hat Seoul mit Gegenmaßnahmen gedroht.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.01.2016)

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