„Hunger als Waffe“ in Syrien: Die Toten von Madaya

Warten auf Nahrungsmittel: Die Bewohner der belagerten syrischen Stadt Madaya mussten lange hungern.
Warten auf Nahrungsmittel: Die Bewohner der belagerten syrischen Stadt Madaya mussten lange hungern.(c) APA/AFP/STRINGER
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Vom Martyrium einer syrischen Stadt, die monatelang von der Außenwelt abgeschnitten war: Die Bewohner aßen nur mehr Blätter und Abfall. Nicht alle überlebten.

Madaya. Die Menschen waren überglücklich, als die ersten Lastwagen mit Lebensmitteln und anderen Hilfsgütern in Madaya eintrafen. Einigen der Bewohner der nur 50 Kilometer nordwestlich von Damaskus gelegenen Stadt liefen die Tränen über die Wangen. Denn ihr Hungermartyrium – und das der restlichen der 40.000 Bewohner – hatte zumindest vorerst ein Ende gefunden. In Madaya waren im Vormonat nach Angaben von Ärzte ohne Grenzen (MSF) 28 Menschen an den Folgen von Unterernährung gestorben. Um zu überleben, wurden Gras, Blätter und Abfälle gegessen. Katzen und Hunde gab es schon lange nicht mehr, die man hätte jagen können.

Der ehemalige Ferienort wird seit Juli 2015 von der syrischen Armee und der verbündeten Hisbollah-Miliz aus dem Libanon belagert. Am 18. Oktober kamen zum letzten Mal Hilfslieferungen mit Lebensmitteln in die Stadt. Seitdem bestand eine totale Blockade. Brice de le Vingne von MSF in Brüssel bezeichnete noch am Wochenende Madaya als „ein Freiluftgefängnis“ für Tausende von Menschen, unter denen sich Säuglinge, Kinder und Ältere befänden. „Es gibt keinen Weg hinein oder hinaus, die Bewohner sind dem Tod geweiht.“ Mindestens 13 Menschen wurden durch Heckenschützen getötet, als sie aus purer Verzweiflung versuchten, die Stadt zu verlassen. Unter ihnen soll nach lokalen Medienberichten eine schwangere Frau mit ihrer Tochter gewesen sein. Auf der Flucht lösten sie eine der Minen aus. Daraufhin sollen sie von alarmierten Soldaten eines nahen Checkpoints erschossen worden sein.

Essen nur einmal in zwei Tagen

„Jeden Morgen, sobald ich aufwache, beginne ich sofort, nach Essen zu suchen“, erzählte Mohammed, ein Familienvater mit drei Kindern aus Madaya. Er machte deutlich, wie belastend der Leidensdruck der Menschen dort war. Die Familie aß nur einmal in zwei Tagen. So wollten sie sichergehen, dass ihre mageren Vorräte nicht zu schnell aufgebraucht würden. „Ich bin nur noch ein Skelett aus Haut und Knochen“, sagte Mohammed über sich. „Jeden Tag denke ich, dass ich ohnmächtig und nie mehr wieder aufwachen werde.“ Zu essen gab es Wasser, Salz und Blätter. Aber im Winter wächst nichts mehr an den Bäumen, und Mohammed hatte schon die Befürchtung, er und seine Familie könnten nicht mehr lange überleben. Nun, mit dem UN-Hilfskonvoi vom Montag, ist ihre Existenz vorerst gesichert.

Die Genehmigung der syrischen Behörden kam erst nach massivem Druck der Öffentlichkeit zustande. Internationale Hilfsorganisationen und ausländische Regierungsvertreter pochten vehement auf Zugang zu den Hungernden. Erschreckende Fotos und Videos von bis auf das Skelett abgemagerten Menschen kursierten letzte Woche im Internet. Darunter waren auch einige Bilder, die aus anderen Teilen Syriens stammten und Wochen oder sogar Monate zuvor aufgenommen worden waren. Anhänger des syrischen Regimes präsentierten sie als „Beweis“ dafür, dass der Hunger in Madaya eine Inszenierung der Medien und eine „Ente“ sei. Sie starteten ihre eigene Kampagne und stellten Hunderte von Fotos von opulenten Mahlzeiten in sozialen Netzwerken ins Internet. Und das taten sie ausgerechnet unter dem Schlagwort: „Solidarität für Madaya“. Restaurants hätten es nicht besser machen können, um für ihre Menüs Werbung zu machen. Für die Bilder wurden Oliven, Eier, Brot, Fisch und Fleischspieße mit Karotten und Zitronen verlockend zum Zubeißen präsentiert. Dazu kamen Teller voll Hummus und Babaganusch, den klassischen Vorspeisen der Region.

eschmackloser konnte das Leiden von vielen Tausenden von Menschen nicht verhöhnt werden.
Dabei hatten die Anhänger von Präsident Bashar al-Assad ganz vergessen, dass der Hunger auch Orte des syrischen Regimes heimsucht. Die hauptsächlich von Schiiten bewohnten Dörfer Fua und Kefraya nordöstlich von Idlib sind seit März 2015 von oppositionellen Rebellengruppen der Dschesch al Fateh eingekreist. Die „Armee der Eroberer“, zu der auch al-Qaida-Ableger Jabhat al-Nusra gehört, hat dort rund 30.000 Menschen von Wasser, Elektrizität und jedem Nachschub abgeschlossen. „Vor drei Monaten wurde ein Mann von Dschesch al-Fateh hingerichtet, weil er Lebensmittel in die Dörfer gebracht hatte“, erzählte ein Bewohner von Fua der Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI). „Die Moscheen der Nachbardörfer gaben die Exekution bekannt und warnten gleichzeitig, dass jeder andere auch hingerichtet werde, der selbst nur einen einzigen Leib Brot schmuggle.“

Im Dezember konnte das Rote Kreuz aus Fua und Kefraya einige Hundert Zivilisten evakuieren. Das erfolgte im Rahmen eines von der UN ausgehandelten Waffenstillstands zwischen Regime und Rebellen. In diesen Plan waren Madaya und das nahe gelegene Zabadani an der libanesischen Grenze miteingeschlossen. Das Abkommen sah auch Hilfslieferungen vor. Nur, bisher sind die noch nicht in Fua, Kefreya und Madaya in ausreichender Form angekommen. Heute wird sich das mit den neuen Lieferungen endlich ändern. Die neue Hilfe sei natürlich sehr gut, aber bei Weitem nicht genug, meinte Fadi aus Fua. „Wir können nicht mit Lieferungen überleben, die nur alle paar Monate kommen. Besonders die chronisch Kranken, die nicht auf die Evakuierungsliste kamen, leiden am meisten. Es gibt ja keine Medizin.“

Der Hunger könnte bald zurückkehren

Ganz ähnlich ist auch die Situation in Madaya. Mit dem Eintreffen neuer Hilfsgüter wird der Hungertod kurzfristig gestoppt, eine medizinische Behandlung möglich. Zehn Menschen befanden sich im kritischen Zustand und weitere 250 wären in einer Woche in eine akut lebensbedrohliche Lage gekommen. Aber wie lange werden die Vorräte reichen, wann kommen die nächsten Transporte? „Eine kurze Lieferung ist nicht die Lösung“, sagte Dibeh Fakhr vom Roten Kreuz. Denn die Belagerung von Madaya und Zabadani sowie den schiitischen Orten Fua und Kefraya werde in absehbarer Zeit nicht beendet werden. Ob Regime oder Rebellen – keiner ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt bereit, die betroffenen Orte freizugeben. Jeder will sie als Faustpfand für die Verhandlungen behalten.

Madaya ist nur die Spitze des Eisbergs. „Syrer leiden und sterben im ganzen Land, weil Hunger als Waffe von der syrischen Regierung sowie von bewaffneten Gruppen eingesetzt wird“, befindet Philip Luther, der AI-Direktor für den Mittleren Osten und Nordafrika. Nach Schätzungen der UN sind davon in Syrien 400.000 Menschen an 15 verschiedenen Orten betroffen. Die Hälfte davon hält allein die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) eingeschlossen.

2014 waren es insgesamt 240.000 Menschen, die man von lebenswichtigen Ressourcen abgeriegelt hatte. Im UN-Sicherheitsrat wurden zwei Resolutionen verabschiedet, in denen die Konfliktparteien aufgefordert wurden, alle Belagerungen zu beenden und humanitäre Hilfe zu garantieren. Bisher hatten diese Resolutionen keinen Erfolg, und es sieht auch nicht danach aus, als würde sich das ändern. Im Internet rief ein Scharia-Richter der „Armee der Eroberer“ dazu auf, Fua und Kefraya zu zerstören, falls die Belagerung von Madaya nicht aufgegeben wird. Von der Regimeseite heißt es: „Ergebt euch oder ihr werdet ausgelöscht.“ Die Regimetruppen sind dabei, in Moadhamieh ihre Blockade enger zu schließen. Der Vorort von Damaskus war 2013 Ziel von Angriffen chemischer Waffen.

All den Hungernden, ob eingeschlossen von Rebellen oder der Armee, ist das nun egal. Sie können sich nach Monaten der Entbehrung und des Leidens endlich wieder satt essen. Mohammed aus Madaya muss morgen nach dem Aufstehen nicht mehr losziehen, um etwas Essbares für Frau und Kinder zu suchen. Er kann im Bett bleiben.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.01.2016)

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