Schanna Nemzowa: "Ich bin das Sprachrohr meines Vaters"

Will das politische Erbe ihres Vaters bewahren: Schanna Nemzowa, Tochter des ermordeten russischen Politikers.
Will das politische Erbe ihres Vaters bewahren: Schanna Nemzowa, Tochter des ermordeten russischen Politikers.Eventpress Stauffenberg / dpa Picture Alliance / picturedesk.com
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Schanna Nemzowa, Tochter des erschossenen russischen Oppositionellen Boris Nemzow, fordert die Vernehmung des tschetschenischen Präsidenten, Ramsan Kadyrow, im Mordprozess. Bisherige Ermittlungen seien ein "Desaster".

Sie leben seit einigen Monaten in Deutschland und sind als Reporterin für die Deutsche Welle tätig. Beschäftigen Sie sich in Ihrer Arbeit nach wie vor mit Russland?

Schanna Nemzowa: Ja, von Wirtschaft bis zur Politik. Erst kürzlich habe ich über die steigenden Militärausgaben im russischen Budget geschrieben. In Russland, wo ich Moderatorin für den TV-Kanal RBK war – eine Art russisches Bloomberg –, habe ich mich auf Wirtschafts- und Finanzberichterstattung konzentriert. In diesem Feld habe ich eine spezielle Expertise, ich bin ausgebildete Ökonomin. Ich habe mehr als vier Jahre als Marktkommentatorin für RBK gearbeitet, ich kenne mich mit Börsencrashs und Ölpreisen aus.

Wenn Sie Ihre Arbeitserfahrungen in Russland und Deutschland vergleichen, was fällt Ihnen auf?

Ich halte mich selbst für eine unabhängige Person, die objektiv und unvoreingenommen an Stories herangeht. Auch in Russland habe ich meine Meinung nicht verschwiegen. Ich habe noch nie im Leben gelogen. Die größte Herausforderung für mich derzeit ist, dass ich in Deutschland lebe, aber nicht gut Deutsch kann. Ich habe es nie gelernt. Ich habe ja nie damit gerechnet, dass ich nach Deutschland ziehen werde!

Wie definieren Sie Ihre Rolle in Deutschland? Sind Sie eine Journalistin, die die Missstände in Wladimir Putins Russland aufdeckt, sind Sie eine Russin, die in Deutschland arbeitet, eine Emigrantin?

Ganz sicher bin ich keine Politikerin, und auch keine politische Emigrantin. Ich verstehe mich als Journalistin. Und ich bin das Sprachrohr meines Vaters, da ich seine Tochter bin. Hier in Deutschland kann ich sagen, was ich will. Ich bin russische Staatsbürgerin, mir ist nicht egal, was in Russland passiert. Ich würde gern eines Tages in meine Heimat zurückkehren. Ich kann niemals eine Deutsche werden, ich bin ja Russin! Das kann man nicht ändern.

Sie haben in Deutschland die Boris-Nemzow-Stiftung gegründet. Was ist ihr Ziel?

Die Boris-Nemzow-Stiftung ist eine nach deutschem Recht registrierte gemeinnützige Stiftung, sie arbeitet weder gewinnorientiert noch politisch. Ich plane verschiedene Events: etwa das Boris-Nemzow-Forum am 9. Oktober, dem Geburtstag meines Vaters; wir werden einen Preis für Courage vergeben, mit dem Aktivisten, Künstler oder Journalisten ausgezeichnet werden, die europäische Werte verteidigen. Ich möchte auch Bildungsarbeit und wissenschaftliche Arbeiten über die russische Gesellschaft fördern.

Wie wollen Sie diese Tätigkeiten finanzieren?

Im Vorjahr habe ich den Lech-Wałesa-Preis in Polen erhalten. Die zweite Quelle sind die Einnahmen aus meinem Buch „Russland wachrütteln“. Ich habe auch bei Institutionen angefragt, denke an Crowdfunding – ich weiß, wie das geht. Außerdem kann jeder meiner Stiftung spenden. Ich führe ständig Gespräche, da muss man stur und engagiert und darf ja nicht faul sein.

Ihr Vater hat Sie immer wieder auch in vielen Dingen beraten, Sie schreiben, Sie vermissten seinen Sachverstand. Wie gehen Sie mit diesem Verlust um?

Er hatte das letzte Wort für mich. Ich habe ihm viele Fragen gestellt, nicht nur in politischer, auch in persönlicher Hinsicht. Alle mochten ihn, weil er ein brillanter Experte in vielen Bereichen war, von Physik über Mathematik zu Wirtschaft und Politik. Er war ein sehr kreativer Denker. Einmal sagte er zu mir: „Weißt du, ich bin sehr kreativ. Du bist das nicht!“ (lacht) Er hatte total recht. Viele Leute sagen zu mir: „Du bist so gar nicht wie dein Vater!“ Es stimmt. Ich bin nicht so kreativ, nicht so clever, außerdem bin ich eine Frau. Wir sind sehr verschieden. Ich bin sehr stur und nicht gerade faul. Doch diese Dinge können nicht völlig die Eigenschaften kompensieren, die ich nicht habe. Ohne ihn ist es schwierig... Es ist schwierig ohne seine klaren Ansichten, seine Expertise und Erfahrung. Ich muss jetzt allein Entscheidungen treffen, und ich werde Fehler machen.

Ich versuche, zwei Regeln meines Vaters zu befolgen. Erstens: Halte dich an deine Prinzipien. Alles, was ich tue, ist von Prinzipien – Ehrlichkeit, Demokratie und Humanitarismus – geleitet. Der zweite Punkt: Einmal sagte er mir: „Du bist nicht sehr freundlich zu deinen Mitmenschen.“ Er hatte recht. Ich arbeite daran, persönlich freundlicher zu werden. Das ist eine Norm in Europa, aber nicht immer in Russland. Das ist auch einer der Gründe, warum mein Vater als wahrer Europäer galt: Er war stets sehr freundlich und weltoffen.

Woher nahm Boris Nemzow seine Energie? Er war ja Teil der „nicht systemischen“ Opposition, wurde immer weiter abgedrängt.

Ich muss Sie korrigieren! Es gibt nur eine wahre Opposition in Russland; es gibt keine Opposition innerhalb des Systems. Dieser Begriff, der auf die außerparlamentarische Opposition anspielt, ist eine Erfindung des Kreml.

Mein Vater war sehr leidenschaftlich. So war seine Natur. Er war überzeugt, das Richtige zu tun. Er wollte aus Russland ein demokratisches und florierendes Land machen. Dafür fühlte er sich verantwortlich. Wenn du mehr als zehn Jahre in der Opposition bist, dann kann das sehr demotivierend sein. Aber er nahm seine Verantwortung sehr ernst, und viele haben sich auf ihn verlassen.

Warum wurde er getötet?

Ich habe von Anfang an gesagt: aus politischen Gründen. Es war ein politisch motivierter Mord. Es gibt nur wenige Oppositionsfiguren in Russland, die international bekannt sind. Man kann sie an zwei Händen abzählen. Er war berühmt, effizient, man konnte ihn nicht bestechen oder unter Druck setzen. Er war ein wichtiger, wenn nicht der wichtigste Oppositionelle in Russland.

Aber sein Einfluss nahm doch über die letzten Jahre ab.

Mit dieser Feststellung bin ich nicht einverstanden! Natürlich wurde er aus dem System geworfen. Aber mein Vater zog im Jahr 2013 im Gebiet Jaroslawl nordöstlich von Moskau ins Regionalparlament ein, wo er sehr aktiv gegen Korruption kämpfte. Dank seiner Arbeit musste der Vizegouverneur gehen. Er war der einzige Oppositionelle dort!

Sie machen Präsident Putin politisch für den Mord verantwortlich. Als unmittelbare Tatverdächtige gelten Tschetschenen, doch die Spur führt auch zum Präsidenten Tschetscheniens, Ramsan Kadyrow.

Kadyrow muss unbedingt befragt werden in den Ermittlungen. Aber alle meine Anträge auf seine Vernehmung wurden abgelehnt. Der Haupttatverdächtige, Saur Dadajew, sein Kompagnon Ruslan Geremjew und Ruslan Muchudinow dienten alle drei im Bataillon „Sewer“. Es steht unter vollständiger Kontrolle Kadyrows. Nichts kann ohne seinen Befehl oder sein Wissen getan werden. Laut Behörden ist Geremejews Fahrer Muchudinow für die Organisation des Mordes verantwortlich; er ist aber untergetaucht. Auch Geremejew bekam Deckung, da er Kadyrow nahe steht.

Wollte Kadyrow dem Kreml mit dem Mord vielleicht gar ein Geschenk machen – oder ihn sogar brüskieren?

Ich kann Kadyrow nicht direkt beschuldigen, das Verbrechen in Auftrag gegeben zu haben. Ich kann nur sagen, dass er wichtige Informationen besitzt und dass dieser Mord nicht ohne sein Wissen passieren hätte können. Gab es einen Befehl von einer noch höheren Ebene? Ich weiß es nicht. Es könnte sein. Wollte Kadyrow Putin herausfordern? Ich glaube, er will eigentlich immer seine Loyalität gegenüber Putin unter Beweis stellen. Kadyrow sagte gegenüber russischen Medien, dass die Oppositionellen Volksfeinde und Verräter seien. Er denkt, er könne Putins Macht durch kriminelle Taten absichern. Für die Angehörigen der russischen Opposition besteht derzeit akute Gefahr.

Werden Sie zu dem Prozess, der 2016 beginnen soll, nach Moskau fahren?

Im Prozess werde ich als eine Geschädigte geführt. Ich werde vor Gericht meine Interessen von zwei Anwälten vertreten lassen. Ich habe aus Sicherheitsgründen nicht vor, nach Russland zu fahren. Ich möchte demnächst im Europarat erreichen, dass es einen speziellen Rapporteur zur internationalen Kontrolle des Verfahrens gibt, denn die Ermittlungen sind ein Desaster.

Haben Sie jemals Beileidsbekundungen von offizieller Seite erhalten?

Putin hat meiner Großmutter kondoliert. Das ist alles. Es ist nicht wichtig für mich, Kondolenzen von russischen Beamten zu erhalten. Sie sind nicht meine Freunde, gehören nicht zur Familie. Darauf habe ich nicht gewartet.

Steckbrief

Am 26. März 1984
wird Schanna Nemzowa als Tochter von Boris Nemzow und seiner Frau Raissa im russischen Gorki (heute: Nischni Nowgorod) geboren. Als sie 13 Jahren alt ist, zieht die Familie nach Moskau um, da ihr Vater vom Gouverneur zum Vizepremier unter seinem Förderer, Präsident Boris Jelzin, ernannt wird.

Im Jahr 1998
scheidet Nemzow, bekannt für unkonventionelle Methoden und wirtschaftsliberalen Kurs, angeschlagen aus der Regierung aus. Die Familie lebt eine Zeitlang in den USA, wo der Vater an Universitäten Vorträge hält. Später wird Nemzow zur Schlüsselfigur in der Oppositionspartei „Union der rechten Kräfte“.

Am 27. Februar 2015wird Boris Nemzow im Zentrum Moskaus von vier Kugeln getötet. Seine Tochter kommt kurz danach an den Tatort.

Im Mai 2015
fasst sie den Entschluss, aus Russland auszureisen. Reuters

Veranstaltung

Schanna Nemzowa im Gespräch mit „Presse“-Außenpolitikchef Christian Ultsch im „Politischen Salon“, Institut für die Wissenschaften vom Menschen, 19. 1., 18 Uhr. Die Anmeldung ist leider bereits geschlossen! Ein Video des Events wird ab 20. Jänner auf der Website des IWM (www.iwm.at) verfügbar sein.
„Russland wachrütteln“ ist der Titel von Schanna Nemzowas Buch, verfasst mit Boris Reitschuster, Ullstein Verlag.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.01.2016)

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