„Es mangelte an Vernunft in der Flüchtlingskrise“

Lithuania´s Foreign Minister Linkevicius arrives at an extraordinary EU foreign ministers meeting in Brussels
Lithuania´s Foreign Minister Linkevicius arrives at an extraordinary EU foreign ministers meeting in Brussels(c) REUTERS (FRANCOIS LENOIR)
  • Drucken

Litauens Außenminister Linkevičius warnt Griechenland vor Schengen-Rauswurf und fürchtet Ende der EU-Sanktion gegen Russland.

Die Presse: Sie haben erklärt, Schengen sei gefährdet. Das war zu Jahresbeginn. Danach gab es weitere nationale Alleingänge. Sehen wir das Ende von Schengen, der offenen Grenzen?

Linas Linkevičius: Das wird sich in den nächsten Monate entscheiden. Wir haben diese Krise jedenfalls unterschätzt. Alles hängt davon ab, ob wir nun die Maßnahmen umsetzen, die wir ja schon beschlossen haben: die Kontrolle der Außengrenzen oder die Schaffung einer EU-Küsten- und Grenzwache zum Beispiel. Das ist noch nicht geschehen. Auch die Hotspots sind noch nicht wie geplant errichtet worden oder funktionieren nicht richtig. Ich habe daher teilweise Verständnis für die nationalen Maßnahmen, mitunter halte ich sie für unvermeidlich. Solange sie vorübergehend sind, schwächen sie das Schengen-System auch nicht, sondern helfen eher dabei, es zu erhalten.

Gilt das auch für Österreichs Asylwerber-Obergrenze?

Natürlich gibt es eine Obergrenze, wie viele Flüchtlinge man aufnehmen kann. Das wurde anfangs völlig übersehen. Es gab missverständliche Signale an die Flüchtlinge. Auch Wirtschaftsflüchtlinge dachten, sie seien willkommen. Wir müssen Ordnung in dieses Chaos bringen – mit Mitgefühl gegenüber den Flüchtlingen, aber auch mit Vernunft. Dass es in der Flüchtlingskrise anfangs an Vernunft gemangelt hat, ist offensichtlich.

Stichwort Schutz der Außengrenze: Griechenland scheint dazu derzeit nicht in der Lage. Österreichs Innenministerin hat vorgeschlagen, Griechenland zumindest vorübergehend aus dem Schengen-Raum zu entfernen. Sollte das erwogen werden?

Alle Möglichkeiten stehen offen. Griechenland hat bisher nicht geliefert. Soweit ich weiß, wurde bei dem Treffen der EU-Innenminister eine scharfe Warnung an Griechenland gerichtet. Man kann nur hoffen, dass sich Griechenland nach dieser Warnung bessert.

Auch die Umverteilung von Flüchtlingen aus Italien und Griechenland funktioniert nicht. Ist das Quotensystem zur Aufteilung der Flüchtlinge praktisch tot?

Ja. Zumindest ist es derzeit unrealistisch. 92 Flüchtlinge wurden aus Griechenland umverteilt. Nach all den Debatten. Das ist wirklich unbefriedigend. Vier dieser Flüchtlinge sind in Litauen. Und das war wirklich eine aufwendige Suchaktion, unsere Teams mussten sich erst vor Ort zurechtfinden. Solange also die Hotspots nicht funktionieren, die Flüchtlinge nicht richtig registriert werden, kommen wir nicht weiter.

Anderes Thema: Die Front gegen Russland bröckelt. Die USA erwägen, ihre Sanktionen in den nächsten Monaten aufzuweichen. Italien hat angedeutet, auf selbiges in der EU drängen zu wollen. Paris und Berlin stärken ihre Kooperationen mit Russland. Glauben Sie noch, dass die EU-Wirtschaftssanktionen im Sommer verlängert werden?

Wir haben uns alle darauf geeinigt, dass die Bedingung für ein Ende der Sanktionen die Umsetzung der Minsker Vereinbarungen ist. Es verwirrt mich also sehr, dass die Anstrengungen nun verstärkt der Erleichterung der Sanktionen gelten und die Umsetzung des Minsker Abkommens vernachlässigt wird. Das ist das falsche Signal. Denn wir sehen generell keinen Fortschritt bei der Umsetzung von Minsk. Es gibt kleine Verbesserungen, wie zum Beispiel weniger Schusswechsel. Aber das ist alles. Wir bringen also die Prioritäten durcheinander. Und das mit Absicht.

Es gibt doch auch den Vorwurf, dass die Ukraine ihre Verpflichtungen verschleppt, um ein Vorankommen des Minsker Abkommens und so ein Ende der Russland-Sanktionen zu verhindern.

Wir verwechseln Opfer und Aggressor. Ich lese Stellungnahmen (Anm., westlicher Politiker), wonach nun die Ukraine am Zug sei. Sie müsse Dezentralisierung und Verfassungsänderung vorantreiben. Es geht immer weniger um Sicherheitsmaßnahmen. Aber die müssen zuerst kommen. Wie können wir die Ukraine zu politischen Reformen drängen, wenn russisches Militärgerät in den Straßen von Donezk und Luhansk steht, wenn internationale Beobachter zu diesen Gebieten keinen Zugang erhalten?

Sie haben immer gewarnt, Putin werde versuchen, Europa zu spalten. Ist ihm das gelungen?

Ja, teilweise. Wir haben zum Beispiel vereinbart, politische Kontakte auf Spitzenebene mit Russland zu begrenzen. Aber rundherum sehe ich diese Kontakte. Es gibt also keine Isolation Russlands. Sie sind zurück am Verhandlungstisch. In der Ukraine. Aber auch in Syrien.

Hängt das nicht zusammen? Der IS-Terror gilt derzeit als größere Gefahr als die Ukraine-Krise, und der Syrien-Krieg wird ohne Russland nicht zu beenden sein.

Was Russland in Syrien tut, hat nichts mit den Erwartungen der internationalen Gemeinschaft zu tun. Ich sehe keine fruchtbaren Resultate dieser „Partnerschaft“.

Seit der Ukraine-Krise fürchtet auch Ihr Land verstärkt eine Destabilisierung durch Russland. Sie wollen noch mehr Nato-Unterstützung. Wird es die geben?

Es geht langsam in die richtige Richtung. Wir wollen aber einen noch größeren Fußabdruck unserer Verbündeten auf unserem Territorium sehen. Derzeit sind Einheiten in Kompaniestärke stationiert. Das ist keine sehr beeindruckende Zahl. Wir hätten gern mindestens Bataillonsstärke und auch mehr Ausrüstung im Land, die etwa für Übungen bei uns gelagert würde.

Besteht da nicht die Gefahr eines Wettrüstens mit Russland?

Im Gegenteil: Das ist die einzige Sprache, die sie verstehen. Wer denkt, dass aktives Handeln Russland provoziert, liegt daneben. Es ist genau umgekehrt: Nicht zu handeln, würde sie provozieren. Wenn wir keine eindeutigen Signale senden, wird Russland das als Schwäche auslegen.

ZUR PERSON

Linas Linkevičius ist seit 2012 litauischer Außenminister. Der 55-Jährige war zuvor u. a. Verteidigungsminister.

Litauen zählt neben Estland, Lettland und Polen zu den schärfsten Verfechtern harter Russland-Sanktionen. In Litauen ist die russische Minderheit mit 6,5 Prozent deutlich kleiner als in den anderen beiden baltischen Staaten. Im Süden Litauens liegt allerdings die russische Exklave Kaliningrad.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.01.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

160128 GENEVA Jan 28 2016 Bruce Aylward L Assistant Director General of World Health O
Außenpolitik

Syrien: Fehlstart bei Genfer Friedensgipfel

Am Freitag begann in Genf eine neue Runde von Verhandlungen über eine Lösung des Syrien-Konflikts. Die wichtigste Anti-Regime-Allianz boykottierte aber zunächst das Treffen.
German Chancellor Merkel addresses a news conference at the Chancellery in Berlin
Außenpolitik

Deutschland macht es Asylwerbern schwerer

Eine Obergrenze gibt es nach wie vor nicht, doch im Hintergrund haben CDU, CSU und SPD weitere Verschärfungen beschlossen. Vor allem die Abschiebung von Nordafrikanern soll künftig leichter gehen.
Ein Flüchtlingslager im Libanon.
Außenpolitik

Faymann: 60 Millionen Euro für Syriens Binnenflüchtlinge

Wenn Menschen vor Ort gut versorgt seien, würden sich weniger Flüchtlinge auf den Weg nach Europa machen, sagt der Bundeskanzler vor der Syrien-Geberkonferenz nächste Woche.
Europa

Mitgliedstaaten müssen zahlen

Hilfe in Herkunftsländern. EU-Gipfel berät über fehlende Gelder für Afrika, Syrien und die Nachbarstaaten der Krisenländer.
UNO-GENERALVERSAMMLUNG IN NEW YORK: KURZ / AL-JAFAARI
Außenpolitik

Humanitäre Hilfe: Wien sagt 10 Millionen Euro zu

G7 und EU-Staaten wollen 1,6 Milliarden Euro für Syrien-Flüchtlinge bereitstellen. Kurz: Asylsystem hilft Schleppern.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.