Syrien: Eine Stadt erwartet ihren Untergang

People walk at Turkey´s Oncupinar border crossing on the Turkish-Syrian border in the southeastern city of Kilis
People walk at Turkey´s Oncupinar border crossing on the Turkish-Syrian border in the southeastern city of Kilis(c) REUTERS (OSMAN ORSAL)
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Wer kann, flüchtet aus der umkämpften Stadt Aleppo. Rund 300.000 Menschen harren dort noch aus. Das Regime will die letzte Verbindung mit der Außenwelt kappen. Schon jetzt ist die Versorgung knapp.

Damaskus. Die Flüchtlinge sind erschöpft und müde. Über Stunden waren Zehntausende von ihnen zu Fuß unterwegs, mit ihrem Hab und Gut auf den Schultern. „Wir sind vor den russischen Bomben geflohen“, sagte ein Familienvater. „Jetzt wollen wir in die Türkei.“ Aber die Grenztore des Nachbarlandes sind geschlossen und lassen nur sporadisch Menschen passieren. Ankara hat bereits 2,5 Millionen Syrer aufgenommen, und man will nicht noch mehr Flüchtlinge.

Als Ausweg erklärte sich die Kurdenmiliz YPG bereit, einen humanitären Korridor zu eröffnen. Die Menschen werden in die kurdische Stadt Afrin gebracht, nordwestlich von Aleppo. Ein Teil von ihnen ist aus dem Territorium der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) geflohen. Die meisten jedoch kommen aus den ländlichen Gebieten von Tal Rifaat und Azaz, nahe der türkischen Grenze. Nach der Intensivierung russischer Bombenangriffe hatten sie befürchtet, die neue Offensive der syrischen Armee könnte auch in ihre Dörfer und Städte führen.

Vorstoß Richtung türkischer Grenze

Tatsächlich stoßen Regierungstruppen weiter nach Norden vor. Laut neusten Berichten stehen sie etwa fünf Kilometer vor Tal Rifaat. Von da sind es noch 15 Kilometer bis nach Azaz, und dann noch weitere acht Kilometer bis zum türkischen Grenzübergang.

Anfang vergangener Woche hatte das syrische Regime ihren Großangriff gestartet. Im Norden Aleppos konnte mit Hilfe russischer Kampfjets die seit über drei Jahren bestehende Blockade zweier schiitischer Orte durchbrochen werden. Es war einer der seltenen militärischen Erfolge für das Regime. Für den weiteren Verlauf des syrischen Bürgerkriegs kann das entscheidende Folgen haben.

Die schiitischen Städte, Nubl und Zahraa, liegen etwa 20 Kilometer nordwestlich der ehemaligen Industriemetropole Aleppo. Mit dem Durchbruch der Regierungstruppen wurde die Hauptnachschubroute der Rebellen in die Stadt abgeschnitten. Das hat nicht nur bittere Konsequenzen für Aleppo. Auch die Rebellen in der Provinz Idlib sind betroffen. Denn damit ist der Nachschub an Benzin gekappt.

Den Treibstoff hatten die Rebellen vom IS gekauft, dem Feind, den sie eigentlich bekämpfen. Die Extremisten kontrollieren den überwiegenden Teil der syrischen Ölquellen. Es gab eine informelle Handelsroute aus dem IS-Territorium im Nordosten von Aleppo bis in den Westteil der Stadt und nach Idlib. Erst im Juni war es zu einer neuen Absprache zwischen den Rebellen und dem IS gekommen: Der Weg sollte für Händler offen gehalten werden, die zwischen beiden Herrschaftsgebieten hin und her reisen.

Aber nun hat die syrische Armee diese Route blockiert. Das ist für viele eine Katastrophe. Denn nicht nur Militärfahrzeuge brauchen Benzin, auch Privathaushalte für die Generatoren. Bäckereien können ohne Strom kein Brot backen, und die Kommunikation mit der Außenwelt über Satelliten-Internet könnte schnell zu Ende gehen.

„Die Mutter aller Schlachten“

Derzeit konzentrieren sich die Kämpfe auf die Gegend von Ritayan, nordwestlich von Aleppo. Die syrische Armee, mit der Weltmacht Russland und dem schiitischen Iran an seiner Seite, will die Gunst der Stunde nutzen und weiter vorstoßen. Der letzte offene Korridor im Westen von Aleppo soll geschlossen und damit das Schicksal der beinahe vier Jahre umkämpften Stadt besiegelt werden. Immer wieder hatte das Regime vergeblich versucht, den von den Rebellen besetzten Ostteil einzunehmen. „Die Mutter aller Schlachten“ war dafür als Motto ausgegeben worden und unterstreicht die Symbolkraft der Stadt.

Rund 300.000 Menschen sollen dort noch von ehemals 2,5 Millionen Einwohnern übrig geblieben sein. Die meisten von ihnen können es sich nicht leisten zu flüchten: Weder innerhalb Syriens geschweige denn in die teure Türkei. Aber die derzeitige Eskalation könnte daran etwas ändern.

„Eigentlich wollen jetzt alle raus“, sagte ein Mitglied der Organisation der Weißen Helme, die in Aleppo Opfer von Bombenangriffen aus den Trümmern rettet. Niemand wolle unter dem steigenden Bombenhagel leben und gleichzeitig eine Belagerung aushalten. Um dann möglicherweise auch noch in die Hände des Regimes zu fallen. „Alle warten auf die Öffnung der türkischen Grenze.“

Die Flucht in das türkische Kilis ist den Bewohnern durch die syrische Armee versperrt. Sie müssten zum westlich gelegenen Grenzübergang Bab el-Hawa flüchten. Noch ist die Straße offen, aber der Vorstoß der Armee kann schnell gehen und die Verbindung Aleppos mit der Außenwelt ist gekappt.

In der umkämpften Stadt sollen die Preise für Lebensmittel und Benzin bereits gestiegen sein, wie Ismail von den Weißen Helmen erzählt. Drei funktionierende Märkte soll es in der Stadt noch geben. Aus Angst vor Bombardierung befinden sie sich längst nicht mehr auf offenem Gelände, sondern zwischen engen, hohen Häuserzeilen. Elektrizität gab es bis vor sechs Monaten für wenige Stunden am Tag. „Aber dann wurde der Strom komplett abgeschaltet“, meint Ismail.

Seitdem hat jede Straße in Aleppo einen Generator, der die verbliebenen Haushalte mit Elektrizität versorgt. Wasser komme mit Glück alle paar Tage für ein bis zwei Stunden aus der Leitung. Aber das sei natürlich bei Weitem nicht genug. „Wir sind von allen Basisbedürfnissen abgeschnitten“, sagt Ismail. „Kein Strom, kaum Wasser, zu wenig Benzin und unzureichende Versorgung mit Nahrungsmitteln.“ Und er weiß, es kann noch viel schlimmer werden.

Fassbomben und russische Kampfjets

Nach wie vor fallen Fassbomben auf die Stadt. Das sind mit Sprengstoff gefüllte Metallfässer, die mit Nägeln, Benzin oder Chemikalien angereichert sein können. Sie werden von Hubschraubern abgeworfen und sind völlig unpräzise. Man weiß nie, wo und wann sie niedergehen. Hinzu gekommen sind die Bombenangriffe der russischen Kampfflugzeuge. „Viele, sehr viele Kämpfer sind durch sie getötet worden“, meint Ismail. „Aber die Opfer unter der Zivilbevölkerung sind immer noch weit höher.“

Lange gibt der Mitarbeiter der Weißen Helme Aleppo nicht mehr. Denn die syrische Armee versuche ständig durchzubrechen. Seit Tagen werde an den Frontlinien bombardiert, um eine Bresche zu schlagen. Ismail ist pessimistisch: „Die Kämpfer können Aleppo auf Dauer nicht verteidigen.“ Er gibt ihnen noch einen Monat. Mehr sei wahrscheinlich nicht drin. Denn gegen die Bombenangriffe sind die Rebellen machtlos. Sie können sich nicht immer in Tunneln verstecken. Zum Schluss sagt Ismail: „Die Welt soll bitte die Menschen in Aleppo nicht vergessen.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.02.2016)

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