Flüchtlinge: Merkels türkisches Dilemma

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Die deutsche Kanzlerin war neuerlich in Ankara, um den Aktionsplan zur Eindämmung des Flüchtlingsstroms voranzutreiben. Dabei übte sie scharfe Kritik an den russischen Luftangriffen auf Aleppo.

Ankara/Wien. Kurz bevor Angela Merkel am Montag im verschneiten Ankara mit militärischen Ehren empfangen wurde, waren erneut zwei Flüchtlingsboote auf dem Weg zur griechische Insel Lesbos gekentert, mindestens 33 Menschen ertrunken. Zeitgleich spitzte sich die Lage an der syrisch-türkischen Grenze zu. Dort waren in den vergangenen Tagen 35.000 Syrer gestrandet, die den Angriffen des Assad-Regimes und der russischen Luftwaffe auf Aleppo zu entkommen suchten. Die Türkei hat ihnen die Einreise vorerst verweigert.

Die Zeit drängt, das weiß auch die deutsche Bundeskanzlerin. Die türkische Regierung mag taktieren, sie ist mit der Fluchtwelle offensichtlich ebenso überfordert wie die europäischen Regierungen. Bald könnte die Zahl der syrischen Flüchtlinge im Land die Drei-Millionen-Grenze übersteigen. „Wir können nicht von der Türkei auf der einen Seite erwarten, dass sie alles stoppt, und auf der anderen Seite sagen wir, über die Kontingente sprechen wir dann in einem halben Jahr“, kritisierte Merkel ihre europäischen Partner. Sie versuchte zum wiederholten Mal eine Annäherung zwischen der EU und der Türkei vorzubereiten, um den bereits im vergangenen Herbst vereinbarten Aktionsplan zwischen der EU und Ankara endlich umzusetzen, die Fluchtwelle nach Europa einzudämmen. Im Gegenzug für finanzielle Hilfe und die jährliche Übernahme von 250.000 Flüchtlingen, so der grobe Plan, soll Ankara die Überfahrt nach Europa stoppen. Aber noch lauern zahlreiche Fallstricke auf diesem Weg.


Zu wenig Personal. Der Flüchtlingsstrom nimmt zwar ab. Das dürfte aber weniger Ankara als dem Wetter geschuldet sein. Allein seit Jahresbeginn setzten 70.000 Flüchtlinge von der Türkei nach Griechenland über. Die EU-Kommission wird am Mittwoch einen kritischen Bericht über die bisherigen Maßnahmen der Türkei zur Eindämmung der Flüchtlingswelle veröffentlichen. Nach „Presse“-Informationen dürfte darin unter anderem hervorgehoben werden, dass Ankara zu wenig Sicherheitspersonal an die Seegrenze geschickt hat. Die Kräfte sind wegen des Kurdenkonflikts im Südosten der Türkei gebunden. Deutsche Polizisten sollen nun türkische Grenzschützer unterstützen, kündigte Merkel am Montag an.


Rechtliche Probleme. Um den Zustrom an Flüchtlingen völlig zu stoppen, müsste die Türkei als sicheres Herkunftsland eingestuft werden. Nur so könnten Schutzsuchende, die nach wie vor versuchen, über das Meer zu reisen, zurückgeschickt werden. Dies gilt insbesondere, wenn der von Merkel angekündigte Plan umgesetzt wird, die Nato in die Kontrolle der EU-Außengrenze einzubinden.


Das Milliardenversprechen. Es geht – auch – ums Geld. Drei Milliarden Euro hat die EU der Türkei zugesagt. Nach schwierigen Verhandlungen mit Italien gab es vergangene Woche eine Einigung. Eine Milliarde kommt aus dem EU-Budget, der Rest von den Mitgliedstaaten. Deutschland zahlt mit 427,5 Millionen Euro den größten Teil. Österreich steuert 45 Millionen bei. Ankara reicht das nicht. Wie ein vom griechischen Online-Medium euro2day veröffentlichtes Dokument belegt, hat der türkische Präsident, Recep Tayyip Erdoğan, am Rand des G20-Gipfels im vergangenen Jahr damit gedroht, die Grenzen Richtung Griechenland und Bulgarien zu öffnen, sollten nicht mehr als drei Milliarden Euro an EU-Hilfe eintreffen. „Griechenland hat während der Eurokrise 400 Milliarden Euro erhalten.“


Die Schlepper. Es ist nicht so, dass die Türkei nicht geliefert hat: Sie öffnete den Arbeitsmarkt für die 2,5 Mio. syrische Flüchtlinge im Land. Zugleich wurde für Syrer eine Visumpflicht eingeführt. Die Zahl der täglichen Flugverbindungen vom Libanon in die Türkei soll danach abgenommen haben – mit schlimmen Konsequenzen: So hat der überlastete Libanon wegen des Rückstaus begonnen, vereinzelt Syrer in ihr Heimatland zurückzuschicken. Auch das Strafrecht wird nachgeschärft: Menschenhandel soll künftig als Terrordelikt gelten. Ein paar Schlepperringe wurden zerschlagen. Es hakt weiter beim Informationsaustausch zwischen EU-Grenzschutzagentur und den türkischen Behörden.
Zusatzforderungen. Präsident Erdoğan, der am Montag mit Merkel zusammentraf, will nicht nur Geld. Er fordert auch eine Aufhebung der Visapflicht für türkische Bürger in der EU. Dieser Beschluss gilt als heikel, da ihm alle Mitgliedstaaten zustimmen müssen. Außerdem fordert Erdoğan vehement Fortschritte in den Beitrittsverhandlungen ein, die für zahlreiche EU-Regierungen aber weiterhin als Tabu gelten. Die Türkei könnte die Krise zudem als Hebel für andere alte Forderungen nutzen. Zum Beispiel nach einer Schutzzone in Syrien – oder einem stärkeren Vorgehen gegen das Assad-Regime und dessen russischen Verbündeten. Am Montag verurteilte Merkel das russische Vorgehen in Syrien: „Wir sind entsetzt über das menschliche Leid durch die Bombenangriffe“, sagte Merkel. Moskau verstoße gegen eine UN-Resolution.

Die Obergrenzen.Obergrenzen von Staaten dürften keine rechtlich haltbare Lösung sein: Koen Lenaerts, Präsident des EU-Gerichtshofs, bekräftigte am Montag vor Journalisten in Wien, dass es beim Asyl nach der Genfer Konvention keine Obergrenze gebe. Die einzelnen Staaten könnten bloß vorübergehende Notmaßnahmen ergreifen, sagte Lenaerts, ohne konkreter zu werden. Sonst seien die EU-Staaten dazu verdammt, eine Lösung zur Lastenverteilung zu finden. „Tina“, sagte Lenaerts mit einer englischen Abkürzung: „There is no alternative.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.02.2016)

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