Syrien: Will Türkei Schutzzone erzwingen?

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Die türkische Regierung versorgt auf syrischer Seite 80.000 Menschen, um einen Massenansturm zu verhindern. Ankara rechnet mit bis zu einer Million neuer Kriegsflüchtlinge.

Istanbul. Fast 80.000 Menschen, die vor den neuen Kämpfen um die nordsyrische Stadt Aleppo geflohen sind, werden von der Türkei mit Zelten, Decken und Nahrungsmitteln versorgt – allerdings auf der syrischen Seite der Grenze. Ziel sei es, die Flüchtlinge außerhalb der Türkei unterzubringen, sagt Regierungssprecher Numan Kurtulmuş. Die Weigerung der Türkei, die Grenze für die Menschen zu öffnen, löst Spekulationen über die Bildung einer Schutzzone aus, wie sie von Ankara bereits seit Langem gefordert wird.

Kurtulmuş sagte, bisher hätten 77.000 Syrer in den vom türkischen Katastrophenschutzamt Afad und Hilfsorganisationen auf syrischem Gebiet gegenüber der türkischen Grenzprovinz Kilis gebauten Zeltstädten Zuflucht gefunden. Maßgeblich beteiligt ist die islamische Stiftung IHH, die vor sechs Jahren das von Israel abgefangene Gaza-Schiff Mavi Marmara losgeschickt hat. Täglich würden Mahlzeiten für 50.000 Menschen und rund 100.000 Brotlaibe verteilt, erklärte die IHH.

Kinder schlafen auf der Straße

Laut Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu rechnet die Regierung damit, dass bis zu einer Million Menschen in Richtung Türkei marschieren könnten, wenn sich die Lage um Aleppo weiter verschlechtert. Danach hat es am Dienstag auch ausgesehen: Medienberichten zufolge sind die syrischen Regierungstruppen inzwischen bis auf 20 Kilometer an die türkische Grenze herangerückt. Ihr Ziel ist nach Einschätzung Ankaras, die Großstadt Aleppo mithilfe russischer Luftangriffe zu erobern und zuvor alle Verbindungen der Rebellen in Aleppo zur Türkei zu unterbrechen.

Die deutsche Kanzlerin, Angela Merkel, hatte bei ihrem Türkei-Besuch die russischen Angriffe auf Aleppo scharf kritisiert. Der Kreml rechtfertigte sich daraufhin: Derzeit gebe es keine glaubwürdigen Beweise für zivile Opfer, sagte der Sprecher von Wladimir Putin.

Die Lage in den Flüchtlingscamps an der syrisch-türkischen Grenze sei verheerend, warnte indes die UNO. In der syrischen Grenzstadt Azaz schlafen demnach ganze Familien auf der Straße oder zu je 20 Personen in Zelten, die eigentlich nur für sieben Personen vorgesehen sind. 80 Prozent der Zehntausenden Flüchtlinge aus Aleppo seien Frauen und Kinder.

Nach der EU rief auch das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) die Regierung in Ankara auf, die Tore für die Flüchtlinge in Kilis zu öffnen. Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu hatte zuvor erklärt, die Syrer würden „falls nötig“ ins Land gelassen. Am Dienstag blieb die Grenze aber weiter geschlossen. Die Grundidee, syrische Flüchtlinge auf syrischem Boden zu versorgen, entspricht dem Schutzzonenplan der Türkei. Seit Jahren fordert Ankara solche Gebiete, die militärisch mit einem Flugverbot und mithilfe von bewaffneten Truppen am Boden gesichert werden sollen.

Auf diese Weise könne eine fortgesetzte Massenflucht von Syrern in die Türkei und nach Europa unterbunden werden, argumentiert Ankara. Die syrische Exilopposition unterstützt den Plan, doch im Westen kann sich bisher niemand dafür erwärmen; ein entsprechendes UN-Mandat ist derzeit ausgeschlossen.

Nun wolle die Türkei mit den IHH-Camps in Syrien eine „ungeschützte Schutzzone“ bilden, schrieb Marc Pierini, ein früherer EU-Botschafter in Ankara, auf Twitter. Von einer Truppenentsendung zur Verteidigung der Lager – einem wichtigen Bestandteil des türkischen Schutzzonenplans – ist bisher keine Rede. Zumindest aktuell geht es den türkischen Behörden offenbar nicht um die Schutzzone, sondern um etwas anderes. Sie wollen den Massenansturm, so gut es geht, verhindern oder kanalisieren, auch wegen der schwieriger werdenden Situation in der Türkei selbst: In Kilis leben schon jetzt mehr Syrer als Türken.

10.000 Syrer dürfen einreisen

Ankara gab gestern dem Druck der UNO etwas nach: Außenminister Çavuşoğlu sagte, die Menschen an der Grenze sollten kontrolliert ins Land gelassen werden. Nach seinen Angaben haben bisher rund 10.000 der Wartenden in die Türkei einreisen dürfen.

Zudem will die türkische Regierung durch die internationale Aufmerksamkeit für die Lage an der Grenze den Druck auf die EU erhöhen, mehr Geld für die Flüchtlingshilfe bereit zu stellen. Wenn am Ende eine wachsende internationale Zustimmung zum Schutzzonenplan entstehen sollte, wäre das Ankara nur recht.

AUF EINEN BLICK

Aus der von syrischen Regierungstruppen mit Unterstützung russischer Luftangriffe bedrängten Großstadt Aleppo sind in den vergangenen Tagen Zehntausende Menschen in Richtung der türkischen Grenze geflohen. Ankara versucht, die Flüchtlinge auf syrischem Gebiet zu versorgen, und will, dass sie dort bleiben. In der Türkei halten sich 2,5 Millionen Kriegsflüchtlinge auf.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.02.2016)

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